Von Niklas Franzen
Brasilien kommt nicht zur Ruhe. In den Wochen nach den Präsidentschaftswahlen prägt eine extreme Polarisierung weiterhin das politische Klima im größten Land Südamerikas. Rechte Kräfte blasen im Netz und auf der Straße zum Angriff gegen die jüngst wiedergewählte Regierung. Am 26. Oktober war Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT in der Stichwahl gegen Aécio Neves, Kandidat der rechtsliberalen PSDB, im Amt bestätigt worden. In einem der knappsten Wahlergebnisse in der Geschichte des Landes trennten nur 3,4 Millionen Stimmen die beiden Kandidaten.
Bereits im Wahlkampf bekämpften sich die beiden Lager mit einer für Brasilien unüblichen Aggressivität. Wenige Tage vor der Wahl beschuldigte das reaktionäre Wochenmagazin Veja, Sprachrohr der rechten Opposition, Rousseff und Ex-Präsident Lula in großer Aufmachung, „alles“ über einen Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras gewusst zu haben. Der Versuch, das Ruder in letzter Minute noch umzureißen, scheiterte. Vor allem eine loyale Wählerbasis im sozial schwachen Nordosten verhalf Rousseff letztendlich zum knappen Sieg.
Nun entlädt sich der Frust dieser „harten“ Rechten auch auf der Straße. Am 1. November, eine Woche nach der Wahl, demonstrierten zum ersten Mal 2.500 Menschen in São Paulo für die Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff. Reaktionäre Gruppen und ultrarechte Politiker hatten zu dem Protest aufgerufen. Zahlreiche Demonstranten forderten dabei auch eine Militärintervention.
Brasilien wurde bereits zwischen 1964 und 1985 von rechten Militärs regiert. Tausende Oppositionelle mussten während der Diktatur das Land verlassen, Hunderte wurden ermordet. Die damalige Guerillera und heutige Präsidentin Rousseff wurde tagelange gefoltert. Von vielen Seiten erntete die „Putsch-Demonstration“ im Nachhinein scharfe Kritik. Auch Politiker der PSDB distanzierten sich überraschend deutlich.
Dennoch versammelten sich 14 Tage später über 10.000 Menschen an gleicher Stelle zur zweiten Auflage der Demonstration. Wieder marschierte eine bunte Mischung aus enttäuschten Konservativen, christlichen Homohassern und organisierten Neonazis auf. Journalisten und vermeintliche Linke wurden am Rande der Demonstration tätlich angegriffen. Auch in anderen Städten gingen Hunderte auf die Straße.
Der reaktionären Rechten gelingt es mit plattem Nationalismus, der Projektion auf das Feindbild PT und einer Kritik am „Verfall der Familie“ verschiedene Gruppen unter ihrer Fahne zu versammeln. Die gemäßigten Reformen der PT werden als Versuch gedeutet, Brasilien in „eine kommunistische Diktatur wie in Kuba und Venezuela“ zu führen. Die Wahlergebnisse werden angezweifelt und als „größter Betrug der Geschichte Brasiliens“ bezeichnet. Für viele sind die Demonstrationen daher lediglich „Aufmärsche von rechten Freaks“.
Der Philosophieprofessor Paulo Arantes warnt vor einer Verharmlosung der Bewegung: „Das sind mit Sicherheit rechte Fanatiker, jedoch zeugen die Proteste von einer Stimmung im Land und sind deshalb leider ernst zunehmen“. Nicht wenige fürchten einen Flächenbrand. Seit den Massenprotesten, die Brasilien im letzten Jahr förmlich überrollten, zeigt sich diese Rechte auch auf der Straße kampfbereit.
Damals waren Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße gegangen, um gegen die Erhöhung der Preise im öffentlichen Nahverkehr zu demonstrieren. In vielen Städten rissen rechte Kräfte im Verlauf das Ruder an sich. „Ich bin mir sicher, dass die Proteste weitergehen und anwachsen werden“, meint Arantes.
Die Regierungslinke präsentiert sich derweil überfordert und versucht die aktuellen Proteste als Aufstand einer weißen Elite abzustempeln. Jedoch positionieren sich auch große Teile der „neuen Mittelschicht“, jene Brasilianer also, die dank der Sozialpolitik der PT sozial aufgestiegen sind, immer weiter rechts. Laut dem Politikprofessor Fábio Venturini liegt dies vor allem an fehlenden strukturellen Reformen der PT-Regierungen: „Lula und Dilma ist es nicht gelungen, dieser ´neuen Mittelschicht´ ein Klassenbewusstsein beizubringen. Aus diesem Grund sind viele Arbeiter heute extrem konservativ“.
Jedoch präsentiert sich die reaktionäre Rechte nicht als einheitliche Bewegung und ist von Richtungsstreits durchzogen. Rockmusiker Lobão, Star dieser Strömung, verließ verärgert die zweite Demonstration in São Paulo, nachdem erneut mehrere Teilnehmer eine Machtübernahme der Streitkräfte forderten. Der Musiker wurde daraufhin vom eigenen Lager als „Kommunist“ und „PT-Wähler“ beschimpft.
Anfang Dezember versammelten sich erneut hunderte Rechte in São Paulo – jedoch liefen die „Radikalen“ und „Gemäßigten“ in getrennten Demonstrationen durch die Straßen der Eliteviertel der Metropole. Auch am 1. Januar, dem Tag an dem Präsidentin Rousseff ihre zweite Amtszeit antreten wird, werden Proteste im ganzen Land erwartet.