Der Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck in Chile Mitte Juli wirft seine Schatten voraus: Es gibt erste Überlegungen zu einem Hilfsfonds für die Opfer der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad
Von Martin Ling, neues deutschland
Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat es unlängst in Berlin öffentlich eingestanden: Der Umgang mit der »Colonia Dignidad« in Chile sei »kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Auswärtigen Amtes«. Die »Colonia Dignidad« – Siedlung der Würde – im Süden von Chile spottete ihrem Namen. Ein Ort der Gewalt, zum Beispiel von Zwangsarbeit und sexuellem Missbrauch an Kindern über fast fünf Jahrzehnte: von der Gründung der Sektensiedlung durch Paul Schäfer in den 60er Jahren bis zu seiner Festnahme in Argentinien im Jahr 2005. Und auch: Stätte von Folter und Mord an politischen Gefangenen der Pinochet-Diktatur (1973-1990).
Mit dem Regionalbeauftragten des Auswärtigen Amts für Lateinamerika und die Karibik, Dieter Lamlé, hat vergangenen Montag nun der bisher höchstrangige deutsche Diplomat der Siedlung seine Aufwartung gemacht, deren Archive der Denkmalrat in Chile erst vor wenigen Tagen zum nationalen Erbe erklärt hat.
Lamlé suchte die inzwischen unter »Villa Baviera« (Bayerisches Dorf) firmierende Siedlung in Vorbereitung der Reise des Bundespräsidenten Joachim Gauck auf, der sich vom 12. bis zum 14. Juli 2016 zum Staatsbesuch in Chile aufhalten wird. Nach dem kürzlichen Eingeständnis von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), nach dem die bundesdeutsche Diplomatie schwerwiegende Fehler im Fall Colonia Dignidad begangen und auf Informationen über Menschenrechtsverletzungen in der Siedlung nicht angemessen reagiert hat, wird in Chile nun erwartet, dass der Bundespräsident dieses Thema während seines Besuchs öffentlich anspricht.
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Wer ist für die Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad zuständig? Bei dieser Frage zeigen deutsche und chilenische Regierungsvertreter seit Jahrzehnten auf den jeweils anderen. Die Verbrechen wurden hauptsächlich auf chilenischem Staatsgebiet begangen. Die Täter jedoch sind deutsche Staatsbürger. Die verschiedenen Opferkollektive setzen sich aus Deutschen und Chilenen zusammen.
Es gibt die Opfer aus dem Kontext der Militärdiktatur: Angehörige von Verschwundenen und Folterüberlebende. Es gibt die von Paul Schäfer missbrauchten chilenischen Kinder, und es gibt die internen Opfer der Siedlung, die jahrzehntelang Sklavenarbeit leisten mussten, mit Elektroschocks malträtiert oder mit Psychopharmaka misshandelt wurden. Jedoch leben in der Siedlung heute auch noch Täter: Verurteilte und solche, die bislang nicht belangt wurden, da die Justiz bislang nur zögerlich die Verbrechen untersucht hat.
Der Besuch von Lamlé hatte offenbar die Funktion, Informationen zu gewinnen, die in einen Umsetzungsvorschlag für einen Hilfsfonds münden sollen. Lamlé traf sich am Montag mit gegenwärtigen und ehemaligen Siedlungsbewohnern. Sie forderten Hilfsmaßnahmen und Rentenzahlungen für die jahrzehntelange Zwangsarbeit. Wie chilenische Medien berichten, wird sich der Lateinamerikabeauftragte auch noch mit Adriana Bórquez, einer chilenischen Folterüberlebenden, und Efraín Vedder, einem von der Colonia Dignidad zwangsadoptierten ehemaligen Siedlungsbewohner treffen.
Aus Anlass von Lamlés Visite und Gaucks anstehender Reise hatten Angehörige von Verschwundenen und Folterüberlebende am vergangenen Sonntag vorab erneut an den Toren der ehemaligen deutschen Sektensiedlung protestiert. Die Protestteilnehmer forderten Wahrheit über die begangenen Verbrechen und Gerechtigkeit für die Opfer des Sektenregimes ein. Auch sprachen sie sich für ein Ende von touristischen Aktivitäten in der Deutschensiedlung aus. Etwa sechzig Personen befestigten Transparente in spanischer und deutscher Sprache mit der Aufschrift »Geschlossen wegen Menschenrechtsverletzungen« am Eingangstor.
Die für den Tourismus in der »Villa Baviera« Verantwortliche, Anna Schnellenkamp, zeigte sich dialogbereit. Sie ging auf die Protestierenden zu und versprach, dieses Jahr kein Oktoberfest durchzuführen. Damit wurden zuletzt die Kassen gefüllt. Während der Festwochen dröhnte volkstümliche Musik aus den Lautsprechern und es wurde deftige deutsche Kost gereicht: Schweinshaxe, Senfbraten, Nackensteaks, Bratwürste, Kassler mit Kraut.
Schnellenkamp bot den Angehörigen und Überlebenden weitere Gespräche an. Sie merkte jedoch an, dass sie sich gegenüber den Angestellten des Tourismusbetriebes in der Pflicht fühle.
Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika hält einen Dialog zwischen den Siedlungsbewohnern und den chilenischen Opferverbänden für sinnvoll. »Jedoch ist es wichtig, dass beide Staaten, Chile und die Bundesrepublik, diesen Dialogprozess begleiten und gemeinsam Verantwortung für alle Opferkollektive übernehmen«, sagte Stehle dem »nd«. Für die nicht-deutschen Opfer fühlt sich die deutsche Regierung bisher jedoch nicht verantwortlich.
In der Vergangenheit waren wirtschaftliche und soziale Hilfen seitens der Bundesregierung mit dem Kriterium der deutschen Staatsangehörigkeit verknüpft. »Der Fall ›Colonia Dignidad‹ ist eine deutsch-chilenische Menschenrechtstragödie, es bedarf bilateraler Lösungen. Die Menschenrechte sind unteilbar und Hilfsmaßnahmen dürfen nicht anhand von Staatsangehörigkeiten konzipiert sein«, entgegnet Stehle.
Für die nicht-deutschen Opfer fühlt sich die deutsche Regierung bisher überhaupt nicht verantwortlich und für die deutschen auch erst seit Steinmeiers Eingeständnis von Ende April. Stehle fordert Hilfen für alle Opfer ohne Ansehen der Staatsbürgerschaft. Angebracht sei »die Einrichtung einer bilateralen Expertenkommission, die im Dialog mit der chilenischen Seite alle Opfer und ihre Bedürfnisse feststellen« soll. »Die Finanzierung einer Erinnerungsstätte und eines Zentrums, dass die Verbrechen der ›Colonia Dignidad‹ dokumentiert wäre, eine wichtige Geste«, so der Experte, der über die Geschichte der Sektensiedlung promoviert.
In Chile wird nicht nur erwartet, dass das Thema »Colonia Dignidad« einen zentralen Platz während des Besuchs des Bundespräsidenten einnehmen wird, sondern mehr: Angehörige von während der Diktatur in der Siedlung verschwundenen Personen haben Gauck um ein Gespräch im Rahmen seines Chile-Besuchs gebeten. Eine Antwort steht noch aus.
Fotos: Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V.
Informationsveranstaltung in Santiago am 6.7.