Das monatelange Protestlager von Indigenen mitten in der Hauptstadt Buenos Aires ist verschwunden. Die Probleme sind geblieben: Indigenes Land ist zum Spielball wirtschaftlicher Interessen geworden.
Von Bettina Müller, neues deutschland
»Die Gründung des argentinischen Staates beruht auf einem Völkermord.« Die These von Dario Aranda, argentinischer Journalist und Autor verschiedener Bücher zum Thema, ist starker Tobak. Sie fiel auf der Konferenz »Menschenrechte gestern und heute« der Rosa-Luxemburg-Stiftung Anfang Dezember in Buenos Aires. Doch die These ist begründet: »523 Jahre Widerstand gegen Vertreibung, Ermordung und Verfolgung« hieß es auf dem Banner eines zehn Monate im Herzen von Buenos Aires aufgebauten Protestlagers indigener Völker Argentiniens. Anfang Dezember wurde das Zelt auf Grund von Versprechungen des neuen rechtskonservativen Präsidenten Mauricio Macri abgebaut.
Wie auch in den anderen Ländern Lateinamerikas wurden seit der Kolonialisierung des Teils des Kontinents, der heute Argentinien ist, systematisch indigene Völker vertrieben, versklavt und ausgerottet. Verschiedene Feldzüge im bereits unabhängigen Argentinien (1810), wie die »Eroberung der Wüste«, gelten heute vielen Wissenschaftler*innen als Genozid, in dem mehr als 20 000 Indígenas im Süden des Landes ermordet, die Überlebenden in Reservate aufgeteilt wurden.
Bis vor wenigen Jahren gingen die meisten Argentinier*innen noch davon aus, dass es in in ihrem Land fast keine Indigenen mehr gäbe. Umso mehr überraschte es, als die Volkszählung 2010 ergab, dass sich knapp eine Million Menschen (etwa 2,4 Prozent der Gesamtbevölkerung) zu einem indigenen Volk, von denen es um die 38 in ganz Argentinien gibt, zugehörig fühlen. Doch weder vor noch nach dieser Erkenntnis, schenkten die seit 2003 im Präsidentenanwesen amtierenden Kirchners (erst Néstor bis 2007, dann Cristina) den indigenen Völkern und ihren Anliegen Aufmerksamkeit.
Dabei stellt das argentinische Wirtschaftsmodell, das verstärkt auf die Ausbeutung natürlicher Rohstoffe setzt und in der Kirchner-Ära noch vertieft wurde, eines der größten Probleme für die pueblos originarios dar. So hat sich der Anbau transgener Soja in den vergangenen 13 Jahren extrem ausgedehnt und bedeckt inzwischen knapp 60 Prozent der gesamten Anbaufläche Argentiniens. Als Folge wurden über 300 000 Kleinbauern, die meisten Indigene, von ihrem Land vertrieben.
In der Andenregion sind aus 18 Bergbauprojekten Anfang des Jahrtausends inzwischen über 800 geworden. Und da das Land seit 2011, und mit dem zusehenden Versiegen der konventionellen Ölquellen, in einer Energiekrise steckt, wurde nun auch mit Fracking (Aufsprengung von Gesteinsschichten mit Hochdruck und giftigen Chemikalien) begonnen. Besonders betroffen von dieser für Mensch und Umwelt sehr gefährlichen Technik der Förderung von Schieferöl und -gas aus großen Tiefen ist das Gesteinsbecken Vaca Muerta in der südlichen Provinz Neuquén in Patagonien.
Im Gebiet von Vaca Muerta leben vor allem die Mapuche, eines der größten indigenen Völker Argentiniens. Drei von ihnen wurden Ende Dezember 2012 angeklagt, weil sie ihre Gemeinde vor der Räumung durch Ölförderunternehmen, in diesem Fall das halbstaatliche YPF, verteidigten und Steine gegen jene warfen, die mit Abrissbirnen angerückt waren, um das Dorf dem Erdboden gleich zu machen.
Dabei wurde die mit dem Räumungsbescheid abgesandte Justizbeamte verletzt. Diesem Akt der Verzweiflung gingen jedoch zahlreiche juristische Beschwerden seitens der Mapuche, Straßenbesetzungen und andere teils drastische Maßnahmen zum Schutz der Gemeinde voraus. »Seit in unserem Gebiet Öl vermutet wird, haben wir sehr schwere Zeiten durchgemacht: Gerichtsverfahren, Polizeieinsätze im Morgengrauen, Räumungsbescheide, Militarisierung unseres Territoriums. Einmal mussten wir sogar soweit gehen, uns mit Benzin zu übergießen, um die Polizei zum umkehren zu bewegen«, sagte Relmu Ñamku, eine der Angeklagten, die Ende Oktober nach drei Jahren Rechtsstreits freigesprochen wurde. Namku konnte auf große und hilfreiche Solidarität sozialer Bewegungen und Organisationen zählen.
»Im Grunde geht es immer um Territorialfragen«, bestätigt auch der Verantwortliche der Abteilung Indigene Völker der linken Gewerkschaft CTA Autónoma, Rodrigo Romero.
»Das Protestcamp in Buenos Aires wurde auch aufgebaut, weil auf dem Gebiet der Gemeinde Potae Napocna Navogoh (der Frühling), in der Provinz Formosa, verschiedene Großprojekte umgesetzt werden sollen, ohne dass diese vorher dazu befragt wird. Dabei schreibt die UNO-Resolution 169, die auch Argentinien ratifiziert hat, die freie, vorherige und informierte Zustimmung zwingend vor«, erklärt Romero.
Laut Amnesty International zählt Argentinien aktuell 183 Konflikte, die indigene Gemeinden betreffen und in die zumeist internationale, aber auch nationale Unternehmen verwickelt sind, die sich unrechtmäßig, mit Wissen und teilweise aktiver Unterstützung der lokalen, aber auch der nationalen Regierung indigene Gebiete anzueignen versuchen.
Doch sind es nicht nur die Konflikte um Land, die den Indigenen Argentiniens das Leben schwer machen. An den Rand der Gesellschaft gedrängt, ohne Anerkennung für ihre Lebensweise, gehören sie zu den Ärmsten des Landes. Zudem liegen ihre Gemeinden häufig in abgelegenen Gebieten, weshalb es für den Staat wenig interessant ist, dort Bildungseinrichtungen oder Krankenstationen zu unterhalten.
Auch das bewegte die Volksgruppen der Wichi, Qom, Pilagá und Nivaclé aus dem Norden der Republik, im Februar 2015 im Zentrum von Buenos Aires zum zweiten Mal ein Protestcamp zu errichten. Ihr Gesprächswunsch wurde von Präsidentin Cristina Kirchner ignoriert. Ihr rechtskonservativer Nachfolger Mauricio Macri stellte in Aussicht, sich der Anliegen der Indigenen anzunehmen, sobald er sein Amt anträte. Dennoch überraschte es, dass das Zelt allein aufgrund dieses losen Versprechens am 6. Dezember abgebaut wurde – vier Tage vor Macris Amtsantritt.
Félix Díaz, Stammesführer der Qom-Gemeinde Potae Napocna Navogoh, versicherte zwar: »Wir heben das Camp freiwillig auf, aber wenn unsere Forderungen nicht umgesetzt und die Versprechen nicht gehalten werden, kommen wir zurück.« Mauricio Macri hat sein erstes Versprechen, sich mit den Indigenen zusammenzusetzen, am 17. Dezember eingelöst. Sein Sekretär für Menschenrechte, Claudio Avruj, nahm das Forderungspaket entgegen. Relmu Ñamku erklärte nach dem Treffen mit Macri in einem Radiointerview: »Ob eine rechte, linke oder Mitte-links Regierung an der Macht ist, ist für uns völlig einerlei. Die Vorgängerregierung hat sich als volksnahe Regierung dargestellt und ist trotzdem nie auf unsere Forderungen eingegangen. Stattdessen ziehen wir nach zwölf Jahren Kirchner-Regierungen die traurige Bilanz zahlreicher ermordeter Vertreter, die sich gegen das extraktive Modell aufgelehnt haben.«
Ob sich in Zukunft daran etwas ändern wird, ist jedoch mehr als fraglich und erklärt, dass bei vielen Indigenen weiter die Skepsis überwiegt. Schließlich besteht ein Eckpfeiler von Mauricio Macris Politik in der Vertiefung der Ausbeutung natürlicher Rohstoffe, die eben häufig in jenen Gebieten zu finden sind, die eigentlich Land indigener Völker sind. 523 Jahre Widerstand sind nicht genug.
Foto: Ana Rüsche