Brasilien: Rousseff unter Beschuss

Rousseffs Schwäche ist eng verbunden mit der Identitätskrise ihrer Partei. Daher sehen auch linke, dem PT eher wohlgesinnte Beobachter die Partei derzeit in der schwersten Krise ihrer 35jährigen Geschichte.
24/09/2015
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Sarah Lempp

von Sarah Lempp, Blätter für deutsche und internationale Politik

dilmaprot(1)

Wenig mehr als ein halbes Jahr nach Beginn ihrer zweiten Amtszeit ist Dilma Rousseff auf einem Tiefpunkt ihrer Popularität angekommen. Gerade einmal zehn Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer bewerteten die Arbeit der Präsidentin in einer Umfrage von Mitte Juli noch als „gut“ oder „sehr gut“; Hunderttausende demonstrierten Mitte August gegen die Präsidentin und forderten ihren Rücktritt. Rousseffs Schwäche ist eng verbunden mit der Identitätskrise ihrer Partei. Der sozialdemokratische Partido dos Trabalhadores (PT) hat sich mit liberaler Wirtschaftspolitik von seiner Basis entfremdet und konnte auch den Impuls der Massenproteste von 2013 nicht aufgreifen. Daher sehen auch linke, dem PT eher wohlgesinnte Beobachter die Partei derzeit in der schwersten Krise ihrer 35jährigen Geschichte.

Die Präsidentin und ihre regierende Arbeiterpartei zeigen sich gegenwärtig obendrein höchst angreifbar: Ein massiver Korruptionsskandal erschüttert die Regierung und den PT; zudem schwächelt die Wirtschaft empfindlich. Die Opposition wittert daher Morgenluft und treibt die Präsidentin vor sich her. Gerüchte über einen drohenden Regierungssturz machen die Runde. Die fast durchgehend rechts-konservativ dominierten Mainstreammedien im „Land der 30 Berlusconis“ fahren eine regelrechte Kampagne gegen den PT und geben Rousseffs Gegnern damit Schützenhilfe.

Die angeschlagene Präsidentin steht einer Regierung des moderaten Zentrums vor, in der sowohl eher linke als auch stark nach rechts tendierende Kräfte vertreten sind – wobei der wichtigste Koalitionspartner des PT gleichzeitig sein direkter Widerpart ist. Denn der rechte Flügel des größten Verbündeten, der Mitte-rechts-Partei PMDB, betreibt offen Oppositionspolitik und torpediert regelmäßig Gesetzesprojekte der eigenen Regierung.[1]

Das fällt umso mehr ins Gewicht, als der PMDB wichtige Ministerposten besetzt. Und in beiden Kammern des Kongresses stellen führende Vertreter der Partei den Präsidenten. Der konservative Hardliner Eduardo Cunha setzte denn als Präsident der Abgeordnetenkammer in den letzten Wochen auch mehrere Gesetzesvorhaben auf die Tagesordnung, die innerhalb der Regierungskoalition überaus umstritten sind – etwa die Senkung des Strafmündigkeitsalters von 18 auf 16 Jahre.

Mit Kugel, Rind und Bibel

Zudem muss sich die Präsidentin seit der Wahl vom Oktober 2014 mit dem konservativsten Kongress arrangieren, den das Land seit Beginn der Militärdiktatur 1964 hatte: Rechte Abgeordnete bilden die Mehrheit.[2] Der große Einfluss von Vertretern der Waffenindustrie, des Agrobusiness und der evangelikalen Kirchen hat zu einer Wortneuschöpfung geführt, Medien sprechen von der Fraktion aus „bala, boi e biblía“ („Kugel, Rind und Bibel“).

Für ihre offen gegen den PT gerichtete Politik bekommen die rechten Parteien nicht nur von den Medien Unterstützung, sondern auch von Teilen der Bevölkerung, insbesondere aus der oberen Mittelschicht und den wirtschaftlichen Eliten. So gingen im März und April Hunderttausende PT-Gegner auf die Straße und forderten ein Amtsenthebungsverfahren oder gar einen Militärputsch. Vergleichbare rechte Großdemonstrationen hat Brasilien lange nicht gesehen.

Befeuert wird diese Kritik nicht zuletzt von einem Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras, der Rousseff schon im vergangenen Oktober fast den Wahlsieg gekostet hätte. Etliche Spitzenpolitiker des PT sollen seit 2003 bis zu 200 Mio. US-Dollar an illegalen Spenden von dem Konzern erhalten haben. Im Zuge der lava jato („Waschanlage“) getauften Ermittlungen wurden in den vergangenen Monaten mehrere hochrangige Manager wegen Bestechung verhaftet. Gegen Rousseff, die von 2003 bis 2010 Verwaltungsratsvorsitzende von Petrobras war, wird zwar nicht ermittelt, ihr wird aber von vielen Seiten Mitwisserschaft vorgeworfen.[3] Obwohl auch Vertreter der größten Oppositionspartei, des zentristischen PSDB, sowie mehrere Koalitionsparteien in den Skandal verwickelt sind, konzentrieren sich die Medien mit ihrer Kritik im Wesentlichen auf Dilma und den PT.

Auch die zunehmenden ökonomischen Probleme des Landes lasten Medien und Opposition in erster Linie Rousseff an. Stockendes Wachstum und steigende Inflationsrate resultieren jedoch weniger aus politischen Fehlentscheidungen als vielmehr aus krisenhaften Entwicklungen der Weltwirtschaft. So leiden etwa die brasilianischen Exporteure unter der sinkenden chinesischen Nachfrage.

Die Regierung begegnet dieser Krise mit klassisch neoliberalen Rezepten: Unter Federführung des Ex-Bankers und heutigen Finanzministers Joaquim Levy (PMDB) hat sie ein Sparpaket verabschiedet, mit dem der Bundeshaushalt um 20,8 Mrd. Euro gekürzt werden soll. Zudem schränkte sie die Leistungen von Arbeitslosen- und Sozialversicherungen ein und liberalisierte den Arbeitsmarkt. Künftig dürfen demnach Zeitarbeit und Outsourcing ausgeweitet werden. Das markiert einen wesentlichen Rückschritt in der brasilianischen Arbeitsgesetzgebung.

Parteibasis auf Distanz

Für diese Maßnahmen erntete der PT scharfe Kritik von den Gewerkschaften, die einen wichtigen Teil der Parteibasis ausmachen. Sie sehen darin eine Gefährdung der sozialen Errungenschaften der letzten zwölf Jahre PT-Regierung. Selbst eine über alle Parteiflügel hinweg anerkannte Größe wie Paul Singer – einer der PT-Gründer und heutige Minister für Solidarische Ökonomie in Brasília – warnt, die neoliberale Politik entzöge dem PT die Basis und könne zur Spaltung der Partei führen.[4]

Doch die inhaltliche Entleerung des PT und die Entfremdung zwischen Partei und Wählerbasis sind keine neuen Phänomene. Sie begannen bereits unter Rousseffs Vorgänger Luiz Inácio „Lula“ da Silva.[5] Lula, der vor 35 Jahren zu den Gründern der Partei gehört hatte, regierte das Land von 2003 bis 2010. Unter seiner Präsidentschaft entstanden wichtige Sozialprogramme wie die „Bolsa Família“. Seine Regierung erhöhte den Mindestlohn, und der materielle Wohlstand in den Unterschichten nahm zu. Gleichzeitig enttäuschte Lula viele Hoffnungen seiner linken Anhänger. Weder wagte er sich an eine Landreform noch an die Demokratisierung der Medienlandschaft – beides langjährige Forderungen seiner Partei. Anstatt die Konfrontation mit den wirtschaftlichen Eliten zu suchen, mauserte sich der ehemalige Gewerkschafter Lula zu deren Liebling. Seine Regierung, kritisiert etwa der Befreiungstheologe Frei Betto, organisierte eine stärkere gesellschaftliche Teilhabe vor allem über den Konsum, statt soziale Rechte zu verankern.[6]

Folglich verlor der PT im Verlauf seiner mittlerweile zwölfjährigen Regierungszeit zunehmend den Kontakt zu den sozialen Basisbewegungen, aus denen heraus er einst entstanden war. Die Führungsriegen großer linker Organisationen wie des Gewerkschaftsdachverbands CUT oder der Landlosenbewegung MST wurden politisch eingebunden und dadurch zunehmend unkritisch gegenüber der Regierung.

2010 schied Lula mit spektakulären Zustimmungswerten von 87 Prozent aus dem Amt. Zuvor setzte er innerhalb des PT Dilma Rousseff als seine Nachfolgerin durch, die in seiner Regierung zunächst als Energieministerin und dann als Kabinettschefin amtiert hatte. Während ihrer Präsidentschaft verstärkte sich die unter Lula begonnene Bürokratisierung der Partei, die Entfernung zur Basis nahm weiter zu.

Politisch verfolgte Rousseff einen noch unternehmerfreundlicheren Kurs als Lula. Sie setzte wie ihr Vorgänger auf ein (neo-)extraktivistisches Modell – also auf die Steigerung von Agrargüter- und Rohstoffexporten – mit all seinen negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen.[7] Strukturelle Reformen, wie sie soziale Bewegungen seit Jahren fordern, sind bis heute nicht in Sicht. Zwar kündigte Rousseff als Reaktion auf die Massenproteste vom Juni 2013 grundlegende Veränderungen des politischen Systems an. Diese scheiterten aber an ihrer mangelnden Durchsetzungskraft und an den Mehrheitsverhältnissen im Kongress.

Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur politische Gegner, sondern auch PT-Sympathisanten der Präsidentin mangelnde politische Fähigkeiten attestieren: „Sie ist eine Technokratin, die es nie geschafft hat, wie Lula einen Draht zu den unterschiedlichsten Wählerschichten herzustellen“, so der Journalist Tadeu Breda. „Lula hingegen war charismatisch und gab allen das Gefühl, dass er für sie da ist – er wurde in den Favelas gefeiert, aber konnte auch bestens mit Spitzenmanagern umgehen.“

Wunderwaffe Lula?

Der PT ist heute eine sozialdemokratische Partei, die über die Jahre viel von ihrer moralischen und politischen Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Viele Linke haben ihr längst den Rücken gekehrt. Von Selbstkritik oder einer Reflexion der begangenen Fehler ist aber in der PT-Führungsriege nichts zu spüren.

Sie scheint vielmehr darauf zu hoffen, dass sich die wirtschaftliche Situation in Brasilien in den kommenden zwei Jahren verbessert und damit die Aussichten auf einen Wahlsieg 2018 wieder steigen. Dass dann für den PT wieder Lula ins Rennen gehen dürfte, zeigt aber, wie verzweifelt die Lage der Partei ist: Ihr fehlt es an fähigen Nachwuchspolitikern und -politikerinnen, die die alte Führungsriege ablösen und die Organisation erneuern könnten. Überdies wird der Expräsident in den rechten Medien ebenfalls mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert, und seine Zustimmungswerte liegen in aktuellen Umfragen hinter denen des PSDB-Vorsitzenden Aécio Neves. Insofern bleibt fraglich, ob die „Wunderwaffe“ Lula es erneut richten kann. Der PT läuft somit durchaus Gefahr, die Wahl 2018 zu verlieren – falls Rousseff sich bis dahin überhaupt an der Macht hält. Denn die aktuelle Lage ist für sie und den PT gefährlich. Der Wahlkampf und die Auseinandersetzungen der letzten Monate haben das Land gespalten; mittlerweile ist der PT bei vielen Brasilianern geradezu verhasst. Während Lula seinerzeit dank des starken Wachstums verschiedene Interessen bedienen und Kritiker ruhigstellen konnte, steht Rousseff dieses Instrument nicht mehr zur Verfügung. Der ökonomische Abwärtstrend gibt dies schlicht nicht her. Die alten Eliten, die sich mit Lula arrangiert hatten, sehen darum jetzt ihre Chance gekommen, den PT loszuwerden und eine restaurative Offensive einzuleiten. Für das Onlineportal „Brasil Wire“ steht hinter dem Gebaren von Rousseffs Gegnern daher eine regelrechte „Schockstrategie“. Reaktionäre Kräfte würden gemeinsam mit verbündeten Medien versuchen, Krisen herbeizuführen. Sie wollten Chaos verbreiten, um so ihre politischen Ziele zu erreichen.[8]

Ein Sturz der Regierung dürfte dennoch nicht unmittelbar bevorstehen – und zwar aus zwei Gründen: Zum einen können sich die wirtschaftlichen Eliten eigentlich nicht beklagen – neoliberale Maßnahmen wie das jüngst verabschiedete Sparpaket sind ganz in ihrem Sinne. Die scharfe Kritik von dieser Seite soll somit offenbar eher Druck aufbauen, damit die Regierung diese Politik noch vertieft. Zum anderen sind die rechten Parteien ungeachtet ihrer scheinbar einhelligen Kritik am PT zerstritten: Die größte Oppositionspartei PSDB zerfällt in zwei Flügel, die sich gegenseitig lähmen. Dies gilt gerade für den Fall einer möglichen Regierungsübernahme. Zugleich will sie verhindern, dass die bisherige Koalitionspartei PMDB bei einer Auflösung der Regierung das höchste Staatsamt an sich reißt.[9]

Die brasilianische Linke steht angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen vor einem Dilemma. Der PT hat mittlerweile für viele jegliche Glaubwürdigkeit verloren und stellt angesichts der großen inhaltlichen Überschneidungen mit den rechten Parteien nur noch das kleinere Übel dar. Gleichzeitig ist offenkundig, dass ein Sturz Rousseffs einen konservativen Backlash einleiten würde. Zudem ist auf absehbare Zeit keine andere linke Partei in Sicht, die auch nur ansatzweise eine vergleichbare Größe und Kraft entwickeln könnte wie der PT. Alle Versuche, Rousseff aus dem Amt zu drängen, würden daher vermutlich auf massiven Widerstand der großen sozialen Bewegungen stoßen. Doch dies geschähe eher aus historischer Verbundenheit und einem Mangel an Alternativen denn aus der Überzeugung, dass der PT wieder zu einer glaubwürdigen linken Kraft werden könnte. Beendet wäre die politische Misere in Brasilien damit noch lange nicht.

 

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[1] Vgl. Achim Wahl, Hat Präsidentin Rousseff kapituliert?, www.amerika21.de, 3.7.2015 und Andreas Behn, Die Präsidentin strauchelt, in: „die tageszeitung“, 13.7.2015.

[2] Vgl. Nova composição do Congresso é a mais conservadora desde 1964, www.valor.com.br, 5.1.2015.

[3] Vgl. Niklas Franzen, Die Luft wird dünner, in: „Jungle World“, 13/2015.

[4] Eleonora de Lucena, PT pode perder sua base social, alerta Paul Singer, in: „Folha de S. Paulo“, 10.6.2015.

[5] Vgl. Anna Beatriz dos Anjos und Igor Carvalho, O esgotamento do „lulismo“, in: Sonderheft „Caros Amigos“ zu 35 Jahren PT, S. 9-11.

[6] Manuel da Costa Pinto, A vocação literária de Frei Betto, http://revistacult.uol.com.br.

[7] Vgl. Christian Russau und Julianna Malerba, Der Anfang einer viel größeren Welle, www.boell.de, 27.5.2015.

[8] Vgl. Brasil’s Shock Doctrine. Lava Jato, Zombie Narratives & the Psychology of Crisis,www.brasilwire.com, 8.7.2015.

[9] Vgl. Behn, a.a.O.

(aus: »Blätter« 9/2015, Seite 25-28)

Foto: Dorival Mareira (CC BY 2.0)