Auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung war Dario Bossi im Mai in Deutschland. Er ist ein kombonianischer Priester, arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Justiça nos Trilhos (Gerechtigkeit entlang der Schienen) und lebt seit acht Jahren in Piquiá de Baixo, im Bundesstaat Maranhão. Für die Brasilien-Nachrichten führte Lisa Carstensen nachfolgendes Interview mit Dario Bossi. Sie besorgte auch die Einführung.
Von Lisa Carstensen
Unter der zivil-militärischen Diktatur wurde in den 80er Jahren das Programa Grande Carajás als ein Entwicklungsprojekt für Teile der Bundesstaaten Maranhão und Pará in der östlichen Amazonasregion geschaffen. Unter „Entwicklung“ wurde die Ausbeutung der lokalen Eisenerzvorkommen durch das damals noch staatlich kontrollierte Unternehmen Vale do Rio Doce verstanden.
Heute treibt die privatisierte und zu einem der größten transnationalen Bergbauunternehmen avancierte Vale S.A. die Eröffnung einer weiteren Mine, sowie den Ausbau der Eisenstraße und des Hafens mit dem Ziel der Verdopplung der Fördermenge an. Diese Entwicklung ist von Konflikten, Widerständen und Protest, aber auch von Repression und Gewalt begleitet. Indigene und Quilombola-Bewegungen sowie die Landlosenbewegung kämpfen gegen die Konzentration des Landbesitzes und Umweltzerstörung und für den Erhalt traditioneller und ökologischer Landwirtschaft; Gewerkschaften und Menschenrechtsbewegungen klagen entwürdigende Arbeitsbedingungen an, während städtische Bewegungen für ein würdiges Leben sowie gegen Korruption und für soziale Rechte kämpfen. Justiça nos Trilhos unterstützt, begleitet, dokumentiert und vernetzt diverse Bewegungen der Region in ihren Kämpfen gegen Vale und deren Sub- und Zuliefererunternehmen.
BN: Was ist das Projekt Grande Carajás und wie würdest du die aktuelle Situation dieses Projektes beschreiben?
Dário Bossi: Das Projekt Grande Carajás im Norden Brasiliens, genauer gesagt in den Bundesstaaten Pará und Maranhão, wurde 1985 ins Leben gerufen, aber es war bereits seit den 60er Jahren als ein Projekt zur Förderung, zur Ausfuhr und zum Export von Eisenerz aus Carajás geplant. Dort liegen die reichsten Eisenerzminen der Welt. Es handelt es sich um mehrere Minen, die sich im Nationalpark Serra de Carajás befinden. Für dieses Projekt hat Vale, ursprünglich ein Staatsunternehmen, das 1997 privatisiert wurde, die Konzession bekommen. Es wurde eine 892 Kilometer lange Eisenbahnline von der Mine in Parauapebas bis zum Hafen von São Luís gebaut. Dieser Hafen dient ausschließlich dem Export von Eisenerz.
Derzeit gehen 34% des Erzes nach China, 19% in andere asiatische Länder und der Rest nach Europa und in die USA. Das Projekt Grande Carajás wurde auch im Hinblick auf eine mögliche industrielle Vertikalisierung durch die Nutzung eines Teils des Eisenerzes für die örtliche Produktion von Roheisen und Stahl entwickelt. In diesem Zusammenhang versprach man Arbeitsplätze und Entwicklung. Diese Versprechungen wurden aber nicht eingehalten, auch wenn sie damals die Bedingungen dafür darstellten, unter denen die Gemeinden und Landesregierungen das Projekt akzeptierten. Gerade diese Entwicklung richtete sich aber gegen die Bevölkerung:
Derzeit sind nur wenige Stahl- und Eisenwerke im Betrieb und sie weisen ein sehr niedriges technologisches Niveau auf. Seit 2013 findet ein Prozess der Verdopplung des gesamten Programms Grande Carajás statt. Dabei wird das aktuelle Fördervolumen von 110 Millionen Tonnen Eisen jährlich auf 230 Millionen Tonnen erhöht. Dieser Ausbauprozess soll bis 2017 abgeschlossen sein.
BN: Welche Konflikte beobachtet ihr in der Region? Was ist diesbezüglich die Arbeit von Justiça nos Trilhos?
Dário Bossi: Es handelt sich ja um das weltweit größte Eisenzerzprojekt von Vale. Seine Expansion ist sehr gewalttätig. Das betrifft sowohl die lokale Bevölkerung als auch die Umwelt. So zum Beispiel durch die Rodung von Wald und die Vertreibung der Anwohnerinnen und Anwohner, wenn es darum geht, Platz für die Minen zu scha ffen. Es gibt Konflikte mit traditionellen Gemeinden – das sind Indianer und Quilombolas – aber auch mit Gemeinden, in denen die Leute von der Fischerei und der Landwirtschaft leben.
Diese Konflikte hängen in erster Linie mit der Infrastruktur zur Ausfuhr des Eisenerzes zusammen. Die Güterzuglinie geht durch ca. 100 Ortschaften, was eine Reihe von Konflikten hervorruft. Der Zug durchbricht das Alltagsleben: Im Moment fahren 24 Züge pro Tag durch die Orte, aber mit der Expansion soll der Takt auf täglich 36 Züge erhöht werden. Dann wird alle 20 Minuten ein lauter Zug durch die Orte fahren, jede Durchfahrt dauert im Schnitt vier Minuten. Wir haben also eine „Entführung der Zeit“ von ungefähr fünf Stunden am Tag.
Es gibt auch das Risiko von Unfällen, bei denen Menschen überfahren werden. Zur Zeit ereignet sich im Schnitt alle anderthalb Monate ein Todesfall. Des Weiteren gibt es Probleme mit stillstehenden Zügen, die das Überqueren der Gleise unmöglich machen. Die Leute beobachten zudem Risse in den Fundamenten ihrer Häuser aufgrund der Erschütterungen durch Güterzüge. Ein weiteres Problem ist die Verlandung von Flüssen und Seen, da die Schienen die natürlichen Flussläufe blockieren. Und ein weiterer Konflikt ist die Lärmbelästigung. Justiça nos Trilhos berät die Gemeinden dabei, sich besser vor diesen Aggressionen zu schützen, sich dagegen zu wehren und ihre Rechte einzufordern.
Die Koexistenz der Gemeinden mit diesem Bergbauprojekt ist heute unvermeidlich. Dennoch sind Mechanismen der Abmilderung und Kompensation der Schäden notwendig, ebenso wie Ideen zur Diversifizierung der wirtschaftlichen Struktur, damit die Region nicht zur zukunftslosen Bergbauenklave wird. Leider ist es bis jetzt so, dass alle ökonomischen Unternehmen in der Region vom Bergbau und der Eisen- und Stahlindustrie abhängen. Abgesehen vom Großgrundbesitz natürlich.
Justiça nos Trilhos leistet daher Bildungsarbeit, forscht, stellt Informationsmaterialien her – sowohl journalistischer Art als auch in einfacher Sprache für die örtliche Bevölkerung. Wir arbeiten auch im Austausch und vernetzt mit anderen Betroffenen. Die Vernetzungen gehen inzwischen über den Korridor Carajás hinaus auf die nationale und internationale Ebene. 2009 wurde das internationale Netzwerk der „Betroffenen von Vale“ gegründet. Justiça nos Trilhos bietet auch Rechtsberatung an.
BN: Mit dem Netzwerk der „Betroffenen von Vale” habt ihr vor kurzem den „Unnachhaltigkeitsbericht Vale 2015” veröffentlicht. Kannst du kurz zusammenfassen, was die zentralen Kritiken und Argumente dieses Berichtes sind?
Dário Bossi: Vale veröffentlicht jedes Jahr im Rahmen der Zertifizierungen zur Nachhaltigkeit und dem Global Compact der UN einen Nachhaltigkeitsbericht. Das Unternehmen hat sich also selbst eine Nachhaltigkeitsperspektive auferlegt. Wir untersuchen diesen Bericht, und auf der Grundlage von Informationen, die wir aus den betroffenen Gemeinden erhalten, präsentieren wir das, was das Unternehmen nicht mitteilt. Wir weisen damit auf die Widersprüche und Auslassungen des Nachhaltigkeitsberichts hin.
Nun haben wir zum zweiten Mal einen solchen Shadow Report veröffentlicht und darin Informationen aus den Ländern zusammengestellt, in denen Vale aktiv ist. Wir heben vor allem die schlimmsten Fälle in Mosambik, Peru, Kanada, Indonesien, Kolumbien und Brasilien hervor, berücksichtigen aber auch die Situation in anderen Ländern. Themen, die behandelt werden, sind: Arbeitsrechtsverletzungen, Arbeitsunfälle, Sklavenarbeit, Einschränkung der Gewerkschaftsfreiheit, Einschränkung des Rechts auf Selbstbestimmung traditioneller Gemeinden, das Recht auf Wohnen und Gesundheit in den Bergbauregionen und das Verhalten des Unternehmens in Konflikten um Land und natürliche Ressourcen.
In diesen Konflikten agiert Vale über kooptierende Praktiken und Projekte, die die Gemeinden spalten. Damit kann sie die örtliche Zustimmung gewinnen, ohne auf Anklagen und Forderungen bezüglich der durch den Bergbau hervorgerufenen Schäden einzugehen. In anderen Fällen wurden Spionagetätigkeiten des Unternehmens angeklagt. Diese richteten sich sowohl gegen ihre eigenen Angestellten als auch gegen Organisationen und soziale Bewegungen, die Vale kritisieren.
Das Unternehmen nutzt seine ökonomische Macht, um die nationale Politik zu beeinflussen. Das geschieht zum Beispiel dadurch, indem es konsequent die unterschiedlichsten politischen Parteien finanziert und sich so die Unterstützung dieser Großprojekte durch die nationale Politik sichert.
BN: Einer der spezifischen Fälle, den ihr als Justiça nos Trilhos begleitet, ist der Kampf der Anwohnerinnen und Anwohner in Piquiá de Baixo, einem Stadtteil von Açailândia, der von der Luftverschmutzung durch die dort ansässigen Eisenhütten zur Gewinnung von Roheisen stark betroffen ist. Was ist die aktuelle Situation in diesem Konflikt?
Dário Bossi: Piquiá de Baixo ist vielleicht die am meisten betroffene Gemeinde entlang des Korridors Carajás, denn sie leidet zugleich unter den Folgen der Ausfuhr des Eisenerzes und unter den Eisenhütten, deren Emissionen schwere Krankheiten in der Bevölkerung hervorrufen. Die organisierten Anwohnerinnen und Anwohner kämpfen seit ungefähr acht Jahren.
Auf der einen Seite geht es ihnen darum, die fünf ansässigen Unternehmen und Vale, das ja das Eisenerz liefert, rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Sie fordern auch eine Positionierung der Regierung von Maranhão und der Gemeindeverwaltung, die der Inbetriebnahme zugestimmt und die Umweltlizenzen für die Eisenhütten genehmigt haben. Auf der anderen Seite kämpft die Gemeinde für eine kollektive Umsiedlung in eine Gegend ohne Luftverschmutzung. So haben die Anwohnerinnen und Anwohner bereits die Enteignung eines geeigneten Geländes für den neuen Stadtteil erwirkt und auch ein innovatives städtisches Wohnprojekt entwickelt.
Derzeit geht es darum, möglichst schnell Mittel von der Bundesregierung für den sozialen Wohnungsbau abzurufen. Wenn die Regierung auf diese Anfrage reagiert und wenn die Unternehmen ihre durch starke soziale Bewegungen erwirkte Zusage für die Bereitstellung weiterer Mittel einhalten, wird die Gemeinde in spätestens zwei oder drei Jahren endlich an diesem neuen Ort leben können. Dieser Fall ist für uns ein sehr wichtiges Beispiel für einen lokalen Widerstand, der anklagt und zeigt, dass eine Gemeinde eigenständig ihre Geschichte des Leidens in eine Geschichte der Befreiung und des Lebens umwandeln kann.
BN: Nun treffen wir uns in Deutschland, denn du wurdest eingeladen, hier eine Reihe von Veranstaltungen abzuhalten. Warum findet ihr es wichtig, Kontakte in Deutschland zu knüpfen?
Dário Bossi: Eine der Strategien des Netzwerks Justiça nos Trilhos ist die internationale Vernetzung, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen verschiedenen Ländern. Darunter sind einerseits Länder, in denen Menschen von den Geschäften des Unternehmens Vale betroffen sind, aber andererseits auch Länder, in denen es Geschäftsbeziehungen mit Vale gibt. In Deutschland suchen wir Unterstützung, weil wir die örtlichen Konflikte besser sichtbar machen wollen.
Wir befinden uns ja in einer Amazonasregion, die zwar stark von den extraktivistischen und produktiven Projekten betroffen ist, aber international nicht in Erscheinung tritt und zum Schweigen gebracht wird. Daher wollen wir zeigen, was für ein Skandal das derzeitige Geschehen ist, mit welcher Härte die Gemeinden Menschenrechtsverletzungen erleben und dass ihre Forderungen legitim sind. Abgesehen davon wollen wir gemeinsam mit deutschen Organisationen die Lieferkette des Eisenerzes nachvollziehen, um zu sehen, ob es möglich ist, eine stärkere soziale und ökologische Verantwortung der Automobilindustrie einzufordern.
Denn diese Unternehmen stellen das letzte Glied einer Kette dar, die vom Eisenerz aus Carajás profitiert, und könnten daher die Rohstoffextraktion mit Fragen von Menschenrechten und den sozial-ökologischen Folgen des Bergbaus verknüpfen – und ansonsten gegebenenfalls dieses Eisenerz boykottieren.
Lisa Carstensen schreibt derzeit ihre Doktorarbeit zum Thema „Moderne Sklavenarbeit in Brasilien“ und untersucht dabei die Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie in São Paulo und bei der Holzkohlegewinnung im Bundesstaat Maranhão.