Die Verurteilung von Lula ist Ausdruck von Stärke und Scheitern in einem. Das Lager, das den Staatsstreich befürwortet, hält zusammen und ist mächtig. Es ist auf ein Spektakel angewiesen, um den Zusammenbruch seines Projekts zu verbergen. Die enorme Unbeliebtheit der Putschisten zeigt jedoch, dass es durchaus Raum für die Gewährleistung der Wahlen und den politischen Kampf gibt
Von Antonio Martins*
Wie ändert sich doch alles in Zeiten einer kulturellen Krise und der Sackgasse linker Projekte! Am Ende des Zweiten Weltkriegs, inmitten einer zerstörten Welt und angesichts der „Bedrohung“ durch die Sowjetunion, haben die westlichen Eliten in einem bemerkenswerten Akt politischer Klugheit ihre Ringe hergegeben, um die Finger zu retten. Neue Gesellschaftsverträge wurden geschlossen. Die Löhne stiegen, Vollbeschäftigung wurde erreicht, der Wohlfahrtsstaat und die egalitären Erziehungs- und Gesundheitsnetzwerke entstanden. Große Urbanisierungs- und Industrialisierungsprojekte selbst in peripheren Regionen wie in Brasilien erhielten eine Chance. Sechzig Jahre später ist alles anders geworden – und die infame Verurteilung von Lula muss in diesem größeren Zusammenhang gesehen werden.
Schließlich ist dieser enorme Rückschlag in Brasilien, dieser nie nachlassende Angriff auf die Bürgerrechte, diese konkrete Bedrohung durch den Faschismus Teile eines globalen Prozesses. Anders als in der Nachkriegszeit hat das politische System auf die Krise von 2008 mit der Radikalisierung ihrer am meisten antidemokratischen und rückständigen Eigenschaften reagiert: mit Staatsstreichen oder gefälschten Wahlen wie in Brasilien, Ägypten, Honduras und Paraguay, mit der Ermordung tausender Menschen durch Milizen wie auf den Philippinen, mit Militarisierung wie in Mexiko und jetzt in Rio de Janeiro, mit der Zerstörung der Nationalstaaten wie im Irak, in Libyen, Jemen und Syrien, mit dem Abbau sozialer Rechte wie in ganz Europa.
Allen Fällen ist gemeinsam, dass die Politik durch Spektakel ersetzt wird. Reale Demokratie gibt es nirgendwo mehr: Den Gesellschaften ist das Recht genommen worden, über ihre Zukunft zu entscheiden. Deshalb müssen sie mit Sensationen unterhalten werden.
Lula soll durch seine Inhaftierung von der Präsidentschaftswahl ferngehalten werden – was viel leichter über die Wahlaufsichtsbehörde zu bewerkstelligen wäre. Es geht um aber um die Durchsetzung eines neuen Narrativs in den entscheidenden Monaten bis zu den Wahlen im Oktober. Über den vorgeblich durch die militärische Intervention in Rio de Janeiro eingeleiteten „Kampf gegen die Kriminalität“ hinaus seien wir nun in den „Kampf gegen die Straflosigkeit“ verwickelt, erklärte der Oberst Richter Luís Roberto Barroso vor laufenden Fernsehkameras in der Sitzung vom 4. April. Diese These wird dem Publikum ununterbrochen von den Kommentatoren im Fernsehen, den juristischen „Fachleuten“ und den Leitartiklern eingehämmert.
Dieses Drehbuch weist jedoch eine doppelte Schwäche auf. Erstens gibt sich die Wirklichkeit, die es zu verbergen versucht, jeden Tag Millionen von Brasilianern zu erkennen. Die Kernbotschaft des Staatsstreichs von 2016 verfängt nicht mehr. Versichert wurde, dass die Entfernung der Linken Brasilien wieder Wohlstand und Ordnung bringen werde. Das Ergebnis waren aber Arbeitslosigkeit, Legionen von Obdachlosen, Verlust wohlerworbener Rechte, die Demontage staatlicher Dienstleistungen, die Verscherbelung des Landes, die deutliche Zunahme von Unsicherheit und Gewalt.
Zweitens war der Staatsstreich selbstverständlich das Resultat nicht einer technischen Entscheidung, sondern eines politischen Abkommens zwischen den Konservativen. Deshalb ist der Diskurs des „Kampfs gegen Straflosigkeit“ Flickwerk, ein durchlöcherter Regenschirm, der die parteipolitische Natur richterlicher Entscheidungen nicht mehr verbergen kann.
Die Bundesgeneralanwältin, die den Antrag auf sofortige Verhaftung von Lula gestellt hat, ist dieselbe Raquel Dodge, welche die Einstellung der gegen den Senator José Serra laufenden Ermittlungen verfügt hat, den bis vor wenigen Tagen amtierenden Gouverneur des Bundesstaats São Paulo José Maria Alckmin von den Folgen der Aussagen des Konzerns Camargo Corrêa im Rahmen einer Zusammenarbeit im Strafverfahren befreit und in Rekordfrist die Komplizen des Staatspräsidenten Michel Temer in der milliardenschweren Korruptionsaffäre im Seehafen Santos auf freien Fuß gesetzt hat.
Die Beziehungen zwischen dem Richter Sérgio Moro und dem gegen Dilma Rousseff 2014 unterlegenen rechten Politiker Aécio Neves sind berüchtigt – wie die privaten Treffen der Vorsitzenden des Obersten Bundesgerichtshofs Cármen Lúcia Antunes Rocha mit dem Staatspräsidenten.
Gewisse linke Analysten versichern überstürzt, dass die Wahlen im Oktober nicht stattfinden werden. Kurioserweise ist die Verbreitung dieser Meinung oder zumindest die Verlautbarung demobilisierender Ungewissheiten das eigentliche Ziel derjenigen, die den Staatsstreich durchgeführt haben, ihn seit der militärischen Intervention in Rio de Janeiro radikalisiert haben und jetzt angesichts der Verurteilung von Lula das Gelächter der Hyänen anstimmen, denn die Aussetzung der Wahlen wäre im gegenwärtigen Szenario die einzige Form, um die beiden immensen Schwachstellen des in Brasilien laufenden erzkonservativen Projekts zu überwinden.
Die Würfel sind noch nicht gefallen
Durch die spektakuläre Verhaftung Lulas sollte vom Angriff auf die sozialen Rechte und auf die Souveränität Brasiliens abgelenkt werden. Die enorme Unbeliebtheit der Putschisten zeigt jedoch, dass es durchaus Raum für die Gewährleistung der Wahlen und den politischen Kampf gibt
Drei herausragende Tatsachen haben das innenpolitische Szenario in den letzten vier Monaten bestimmt. Beweise liegen nicht vor, aber man kann davon überzeugt sein, dass die verantwortlichen Personen und Institutionen eine konzertierte Aktion geplant haben. Zusammengenommen haben diese Ereignisse dem Präsidenten Michel Temer die politische Initiative zurückgegeben. Sie haben auch, zumindest zeitweise, die zunehmend starke Bewegung zugunsten einer Aufhebung der nach dem Staatsstreich von 2016 durchgeführten politischen Entscheidungen unterbrochen. Schließlich haben sie die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Oktober, für die ein durchschlagender Wahlsieg von Lula prognostiziert wurde, in ein Lotteriespiel mit heute unabsehbarem Ausgang verwandelt.
Zu den Tatsachen: Am 13. Dezember 2017 hat das Bundesgericht der zweiten Instanz in der vierten Region der Bundesgerichtsbarkeit das Urteil im Berufungsverfahren Lulas gegen seine Verurteilung durch den erstinstanzlichen Richter Sérgio Moro auf den 24. Januar terminiert, zu einem Zeitpunkt, an dem alle Voraussagen dieses Urteil erst in der Mitte des Jahres erwarteten. Es war eine willkürliche Entscheidung, die alle Schnelligkeitsrekorde brach und nur als Eingriff der drei Richter der zweiten Instanz in die ordentliche Reihenfolge der Bearbeitung der anhängigen Verfahren verständlich ist. Sechs Wochen später wurde das Strafmaß von Lula erhöht. Die Richter haben gewiss ihre Voten abgesprochen. Indem sie alle das Strafmaß für Lula auf genau zwölf Jahre und einen Monat erhöhten, gestalteten sie das Verfahren noch summarischer und beschnitten die Einspruchsmöglichkeiten der Verteidigung weiter. Die Auswirkungen auf die binnenpolitische Agenda machten sich sofort bemerkbar: Die zunehmende politische Diskussion über die Bedeutung der politischen Maßnahmen der Putschisten wurde durch die Debatte über Lulas Zukunft ersetzt.
Am 16. Februar folgte die zweite Tatsache. In de Umfragen nahezu bei Null angelangt, in Hunderten von Karnevalsumzügen in ganz Brasilien und vor allem im Sambodrom von Rio de Janeiro der Lächerlichkeit preisgegeben, ordnete der Staatspräsident Michel Temer die Intervention des Bundes durch Einsatz der Streitkräfte im Bundesstaat Rio de Janeiro an. Diese Maßnahme wirkte wie ein weiterer entpolitisierender Blitzschlag. In den folgenden Wochen wurde das Thema der öffentlichen Sicherheit ins Zentrum der gesamtgesellschaftlichen Diskussion gerückt. Grundlegend wichtig waren hierbei das von den Medien veranstaltete Massaker und zu einem geringeren Grad der schon historisch zu nennende Widerstand der Linken gegen Reflexion und Ausarbeitung von Vorschlägen zu diesem Thema.
Am 21. März folgte der Schlussakt. Von ihren eigenen Kollegen unter Druck gesetzt, da sie monatelang eine Neuverhandlung über die Möglichkeit des Haftantritts von in der zweiten Instanz verurteilten Angeklagten, die noch nicht alle Rechtswege erschöpft haben, aufgeschoben hatte, setzte die Vorsitzende des Obersten Bundesgerichtshofs Cármen Lúcia Antunes Rocha das Thema mit einem spitzfindigen Manöver auf die Tagesordnung.
Sie akzeptierte nicht die Überprüfung der grundlegenden Frage – eine verfassungsrechtliche Garantie für alle Bürger – und setzte an ihre Stelle die Diskussion eines Habeas-Corpus-Antrags von Lula, der damit von vornherein als Verteidigung eines Privilegs für mächtige Angeklagte disqualifiziert wurde. Zwei Wochen später war es vollbracht: Der Antrag von Lula wurde abgewiesen und Richter Sérgio Moro erhielt einen Freibrief, um die Verhaftung zu verfügen. Damit hatten die Fernsehsender und Zeitungen mehr Raum, um die Diskussion über das, worauf es bei den Wahlen ankommt, zu vergessen und die Aufmerksamkeit auf die Anklagen gegen Lula zu lenken.
Innerhalb von vier Monaten haben die Konservativen also drei Siege erfochten. Das Szenario ist nun verändert. Trotzdem sind die Würfel noch nicht gefallen: Nichts weist darauf hin, dass die Konsolidierung der Rollback-Agenda unwiderruflich ist. Ein wesentlicher Grund: Temer und der den Staatsstreich durchführende Machtblock – Großunternehmer, Parlamentsmafia und Medien – haben wieder die Initiative erlangt, sind aber so unbeliebt wie zuvor. Keiner ihrer bevorzugten Präsidentschaftskandidaten (Geraldo Alckmin, Henrique Meirelles oder Rodrigo Maia) hat in den Umfragen zehn Prozent erreicht. Und eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha ergab, dass die Bevölkerung nach wie vor gegen die Privatisierungen und „Gegenreformen“ bei den Renten und im Arbeitsrecht ist.
Der Versuch einer Entpolitisierung der Wahlen, die Bemühungen, sie der Logik der Spektakel der Intervention in Rio de Janeiro und des „Kampfs gegen Straflosigkeit“ zu unterwerfen, erfolgen nach einem weltweit üblichen Drehbuch. In Fassendendemokratien diskutiert niemand Ideen, sondern nur Produkte. Wird Brasilien jedoch vor dieser Logik kapitulieren? Wie ist es sonst zu erklären, dass Lula nach wie vor in allen Umfragen trotz seiner Verfolgung weit vorne liegt, Ciro Gomes sich als wirkungsmächtige Alternative empfiehlt und Guilherme Boulos und Manuela d’Ávila noch zulegen können? Alles weist darauf hin, dass wir weder zum Wahlsieg des ultrarechten Kandidatenanwärters Jair Bolsonaro noch zur Aussetzung der Wahlen verurteilt sind. Auf welchen Wegen lässt sich aber die Offensive gegen die Agenda der Rückschritte neu aufnehmen?
Gesucht: der Anti-Temer
Lulas Entfernung aus dem Wahlkampf produziert ein riesiges Vakuum. Dessen Ausfüllung erfordert eine radikale Kritik der Agenda von 2016 und den Vorschlag ihrer Aufhebung. Wer wird das riskieren?
Die große Plage, von der die Fassadendemokratien des 21. Jahrhunderts heimgesucht werden, ist die Ausradierung der Differenzen. In fast keinem Fall stehen Projekte zur Debatte. Die mediengestützten Mitte- und Rechtsparteien bieten zunehmend konservative und marktkonforme politische Programme an. Aus Angst vor einer Konfrontation passt sich die alte Linke an. Wachstumsraten verzeichnen nur die extrem rechten Outsider: Trump, Brexit, Marine Le Pen, Rodrigo Duterte auf den Philippinen, die AfD…
Ausnahmen gibt es. Es sind wenige, aber die sind umso bemerkenswerter. In Spanien hat Podemos in wenigen Jahren das politische System herausgefordert und trotzdem über 20 Prozent der Stimmen erhalten. In Chile ist Ähnliches mit der Frente Amplio passiert. Das bemerkenswerteste Beispiel ist Jeremy Corbyn in Großbritannien, der sich von einer randständigen Position in der angepassten Labour Party ins Spiel brachte und durch Nutzung demokratischer Schneisen in der Organisationsstruktur der Partei seine Anhänger begeisterte, sich der Jugend annäherte und zu einem neuen politischen Phänomen wurde. Corbyn bezieht Position gegen die marktkonformen Medien und tritt für von ihnen bekämpfte Ideen ein (hervorragende staatliche Dienstleistungen, höhere Steuern für Reiche, Aufhebung der Privatisierungen). Wahrscheinlich wird er der nächste Premierminister Englands. Wäre Ähnliches in Brasilien möglich?
Viele Anzeichen in Szenarien mit oder ohne Lula deuten auf eine positive Beantwortung dieser Frage. In den zwei Jahren, in denen er seine Kandidatur vorstellen und verteidigen konnte – von März 2016, als er zwangsweise zum Polizeiverhör vorgeführt wurde und am selben Tag mit der Behauptung reagierte, dass er, die von den Konservativen provozierte Giftschlange noch lebendig sei, bis zum heutigen Tag – hat sich der ehemalige Staatspräsident als politisches Phänomen erwiesen.
Die Medien haben ihn unerbittlich verteufelt. Jede der berüchtigten Kronzeugenaussage, jede öffentliche Äußerung des Richters Sérgio Moro wurde zu einem politischen Pseudofaktum umgelogen und minutenlang in den Nachrichtenprogrammen im Fernsehen ausposaunt. Statt abzustürzen, wie nach den traditionellen Denkmustern zu erwarten wäre, belegte Lula aber in den Umfragen immer höhere Prozentsätze, Anfang April Prozent. Ohne die Verfolgung würde er nach allen Prognosen wohl einen durchschlagenden Wahlsieg erringen, vielleicht schon im ersten Wahlgang.
Lulas Kraft liegt in seiner Empathie, seiner Intelligenz, in seinem Leben im Dienst der Förderung der Bevölkerungsmehrheit, in seinem plebejischen Charisma. Einige dieser Merkmale sind unwiederholbar. Es gibt aber einen das Individuum Lula transzendierenden Kern. Er besteht aus der Wiederaneignung Brasiliens durch die Bevölkerungsmehrheit und der Wiederherstellung geraubter Rechte.
Der ehemalige Staatspräsident wollte diese Ideen nie in Programme ummünzen. Sein Stil ist – im Guten wie im Schlechten – seine Persönlichkeit. Jetzt aber, wo allseits bekannt ist, dass Lula nicht kandidieren kann, müssen andere Kandidaten für die gleichen Programme gefunden werden. Sie werden weniger an Charisma und mehr an Programme gebunden sein.
Die Vorstellung des Anti-Temer-Kandidaten – und vor allem des Post-Temer-Kandidaten – scheint ein politisch mobilisierender und im Wahlkampf gangbarer Weg zu sein. Die lächerlichen Beliebtheitsindikatoren des Staatspräsidenten Temer (4,8 Prozent) verweisen auf etwas. Brasilien hat den Abbau von Rechten gründlich satt, ebenso die Entscheidungen ohne vorgängige Befragung der Gesellschaft, eine auf Parlamentsmafias gestützte Regierung, die Verramschung des Volksvermögens, die Demütigung.
Wie nun ohne Lula einen Kontrapunkt gegen all das zu formulieren – einen Kontrapunkt, für den Lula schon durch die Erinnerung an seine Regierung und seine persönliche Karriere einstand? Die Medienblockade muss durchbrochen werden. Die Medien werden alles unternehmen, um heterodoxe Positionen zu verteufeln.
Es gibt aber einen klaren Weg: Man muss weit über die „schwachen Reformen“ hinausgehen, die André Singer zufolge den Sinn des lulismo ausmachten. Man muss wie Jeremy Corbyn verstehen, dass in Zeiten des Angriffs auf soziale Rechte und Aushebelung der Politik entschieden Nein gesagt, die Auflehnung der Bevölkerung gegen diese Wegnahme der Politik zum Programm gemacht und diese Bewegung politisiert werden muss.
Das bedeutet, vom Widerstand zu Alternativen überzugehen. Was für eine Steuerreform ist gefragt, um die Sozialversicherungsrechte, das sog. Einheitliche Gesundheitssystem und eine qualitativ hohe aus Staatsmitteln finanzierte Erziehung und Bildung zu erhalten und auszubauen? Was für eine politische Reform ist gefragt, um Mechanismen der direkten und bürgerhaushaltsorientierten Demokratie zu schaffen? Was für politische Programme sind für die Reform in städtischen Ballungszentren gefragt, für das Konzept einer Stadt für alle Bürger, für ein bürgernahes Konzept von öffentlicher Sicherheit, für ein neues Landwirtschaftsmodell, für eine Energiewende, für die Bekämpfung von Rassismus und Patriarchat?
Beim Aufbau eines neuen Transformationsprojekts ist eine ganze Welt zu erschließen, die weit über die Wahlen hinausgeht. Um dieses Projekt jedoch aufzubauen, bedarf es vielleicht einer neuen Linken.
Hört endlich mit dem Gerede von der „Apathie der Bevölkerung“ auf!
Nach den gigantischen Kundgebungen in Erinnerung an Marielle Franco zeigt der Widerstand gegen die Verhaftung Lulas wieder, dass es handlungsbereite Massen gibt. Es fehlt aber an Instanzen, die die von den Parteien aufgegebene Rolle übernehmen
Die Sackgasse, in welche die Emanzipationsprojekte des 19. und 20. Jahrhunderts geraten sind, ist ein zentrales Drama unserer Zeit. Eine intensive Auflehnung braut sich angesichts der vom Kapitalismus verursachten Misere in Gesellschaft und Umwelt zusammen. Es fehlt jedoch an neuen Projekten, neuen Organisations- und Aktionsformen. Die Antworten des Systems auf die Krise sind immer zerstörerischer -beispielsweise die Invasion der Armenviertel in Rio de Janeiro durch die brasilianische Armee oder der Abbau der öffentlichen Gesundheitsversorgungs- und Erziehungssysteme in Europa. Trotzdem nehmen die Chancen des Widerstands selbst ab, da sich keine reale Alternative am Horizont abzeichnet. Am Ende geben die erschöpften Gesellschaften klein bei.
In Brasilien hat sich sehr schnell eine opportunistische Erklärung dieses Problems verbreitet, ihr zufolge leben wir in einem Zustand der „sozialen Apathie“. Aus irgendeinem nie erklärten Grund hätten die Mehrheiten nach dem Angriff auf ihre Rechte den Kampf aufgegeben. Nach dieser Hypothese hätte das Phänomen der „sozialen Apathie“ der institutionalisierten Linken keine alternativen Optionen belassen.
Vielleicht lohnt sich die Überprüfung einer gegenläufigen Hypothese. Kann man wirklich von Passivität sprechen? Ist dies nicht gleichbedeutend mit der Verkennung der Kämpfe der Schüler*innen, der Obdachlosen, der Feminismen verschiedener Prägung, auch der Frauen der Armenviertel und der schwarzen Frauen? Was wäre, wenn das Problem sich am anderen Pol der Gleichung befände? Und wenn die Erklärung des „Ausbleibens von Antworten“ gegen die neoliberale Offensive nicht in der Politikverdrossenheit der Massen, sondern im Versagen ihrer vorgeblichen Führungspersönlichkeiten zu suchen wäre?
Die infame Verhaftung Lulas hatte in Brasilien und weltweit einen Aufschrei zur Folge. Wochen zuvor hat die Ermordung von Marielle Franco Hunderttausende auf die Straßen gebracht. Angesichts dieser Tatsachen kann man natürlich nicht von „Passivität“ sprechen.
Was ist diesen Menschenmassen aber vorgeschlagen worden? Welche autonome Aktion konnten sie in der Folge strukturiert durchführen? Weder die Linksparteien noch die Bewegungen „Populares Brasilien“ und „Volk ohne Angst“ haben eine Antwort riskiert. Die Energie auf der Straße hat sich verlaufen.
Mehr noch: Die Entstehung eines mobilisierenden Bewusstseins der schwarzen Bevölkerung, neuer Varianten des Feminismus und des Protests von Schüler*innen mit einer führenden Rolle der Mädchen ist etwas ganz Neues und Vielversprechendes, ja geradezu der Ausgangspunkt. Wie kann man diese Phänomene in eine allgemeine Sprache übersetzen? Anders gewendet, wie kann man einer Sekundarschülerin im ständigen Kampf Wege aufzeigen, die nicht nur für die Veränderung ihres schulischen Umfelds gangbar sind, sondern für die Veränderung der Welt, die zu dieser Zerstörung des Staates geführt hat, vor allem nach der Verfassungsänderung Nr. 95, die die Sozialausgaben in den nächsten zwanzig Jahren einfriert?
Die Antwort fällt nicht leicht und ist auch nicht fix und fertig zu haben, weder in Brasilien noch an irgendeinem anderen Ort der Welt. Viele Zweifel werden angemeldet. Sind die großen Projekte, welche die Welt in ihrer Ganzheit wahrnehmen, überhaupt noch möglich? Falls nicht, was tritt an ihre Stelle? Die bloße zerstreute Vervielfältigung partikularistischer Kämpfe? Wie aber, wenn die entmenschlichenden Kräfte immer mächtiger, vernetzter und unerbittlicher zu sein scheinen?
Wir sind auf der Suche nach Antworten. Um sie zu finden, sind wir auf Großzügigkeit, Dialog, Überwindung der Nabelschau in der Politik angewiesen. Eins scheint jedoch deutlich zu sein: wir müssen endlich mit dem Gerede von „sozialer Apathie“ aufhören! Es ist eine simple und dürftige Antwort. Es transferiert Verantwortungen, maskiert Probleme, besänftigt künstlich eine gewisse Beklemmung. Es führt zu nichts. Wer sein Land und die Welt wirklich ändern will, muss sich zu seiner eigenen Verantwortung bekennen, das Neue zu sehen und Antworten zu finden, über die wir jetzt noch nicht verfügen – statt einfachen Antworten nachzujagen.
* Chefredakteur des Internetportals Outras Palavras. Der Artikel ist das Ergebnis einer gemeinsamen Diskussion mit André Takahashi (Outras Palavras), Cauê Ameni (Autonomia Literária), Gabriela Leite (Outras Palavras), Juliano Vieira (Brasil de Fato), Lívia Ascava (Matrioshka) und Michelle Coelho (Rizoma Livros)
Übersetzung: Peter Naumann; Fotos: Gerhard Dilger, Verena Glass und Francisco Proner