Der brasilianische Präsidentschaftskandidat Guilherme Boulos* über die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels
Von Niklas Franzen, neues deutschland
Herr Boulos, Sie sind Nationalkoordinator der Wohnungslosenbewegung MTST und treten zusammen mit der indigenen Aktivistin Sônia Guajarara zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober an. Warum?
Brasilien befindet sich in einer schweren politischen Krise. Die Hoffnungslosigkeit ist groß und die Menschen sehen keine Zukunft für sich und ihre Kinder. Es ist notwendig, unsere Wut in die Politik zu tragen. Wir wollen das, wofür wir auf der Straße gekämpft haben, nun in der Politik umsetzen. Es bedarf grundsätzlicher Veränderungen, da das politische System in Brasilien gescheitert ist. Wir haben keine Angst, den Finger in die Wunde zu legen.
Aber zielen Sie mit ihrer Kandidatur eher darauf ab, die politische Debatte zu beeinflussen oder wirklich zu regieren?
Wir wollen regieren und nicht einfach nur stille Zeugen der politischen Auseinandersetzung sein. Zusammen mit Sônia Guajajara, der PSOL und sozialen Bewegungen kämpfe ich für ein politisches Projekt, das sich lohnen soll.
Die Arbeiterpartei PT hat 12 Jahre in Brasilien regiert, bis sie im Jahr 2016 durch ein juristisch fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren abgesetzt wurde. Die PSOL entstand als Linksabspaltung der Partei (siehe Kasten). Was würden sie im Falle eines Wahlsieges anders machen als die PT?
Es gab Regierungserfahrungen der Linken in Brasilien – mit Fortschritten und Grenzen. Obwohl wir die Fortschritte anerkennen, werden wir nicht aufhören, Kritik zu üben. Diese Regierungen der PT haben nicht die Banken und das Kapital angegriffen. Brasilien ist weiterhin eines der Länder mit der größten Ungleichheit der Welt. Der Oxfam-Bericht vom September 2017 zeigt, dass hier sechs Personen mehr besitzen als 100 Millionen Menschen. Das Steuersystem ist sehr regressiv. Die Armen zahlen proportional mehr als die Reichen. Es gibt keine Steuern auf große Vermögen, die Erbschaftssteuer ist ein Witz. Es ist wie bei Robin Hood – nur andersrum. All dies wurde während der Amtszeiten der PT nicht angetastet. Wir müssen außerdem ein politisches System angreifen, das sich aus Koalitionen mit den reaktionärsten Kräften zusammensetzt. Diese nutzen die Politik lediglich, um Geld zu machen. Wir brauchen also eine umfassende Demokratisierung des politischen Systems. Auch die Medien müssen demokratisiert werden. Daneben kämpfen wir für eine Agrarreform sowie für eine urbane Reform. Kurz gesagt: Es geht darum, Privilegien anzugreifen – denn das ist mit der PT nicht geschehen.
Der Eintritt von Aktivist*innen in die institutionelle Politik wurde in der Vergangenheit immer wieder scharf kritisiert. Sehen Sie, als Koordinator einer außerparlamentarischen, sozialen Bewegung, kein Problem darin, nun zu Wahlen anzutreten?
Nein. Seit mehr als 15 Jahren bin ich Aktivist der Wohnungslosenbewegung MTST und wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir es uns nicht mehr leisten können, nur über Wohnraum zu sprechen. Durch die Regierung von Michel Temer verlieren die Brasilianer derzeit historische Rechte. Wir dürfen nicht länger zusehen, wie diese kriminelle Bande das Land führt, brutal das Leben der Mehrheit der Bevölkerung angreift und einfach still sein. Und wir werden unsere Mobilisierung auf der Straße aufrechterhalten. Denn: Es reicht nicht aus, einfach nur Wahlen zu gewinnen – wir kämpfen für ein politisches Projekt.
Ex-Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva wurde unlängst in zweiter Instanz verurteilt und kann voraussichtlich nicht zur Wahl antreten. Welche Rolle spielt die PT für ihre Kandidatur?
Die PT ist nicht mehr an der Regierung, mehr als das: Sie hat einen Putsch erlitten. Gegen Lula läuft eine juristische Verfolgung, besser gesagt eine juristische Farce. Dies könnte ihn hinter Gitter bringen, obwohl es keine Beweise gibt. Die Justiz verhält sich wie eine politische Partei, um Lula von den Wahlen auszuschließen. Es ist eine Sache Differenzen mit der PT zu haben – und die haben wir. Das haben wir in der Vergangenheit immer wieder klar artikuliert. Aber wir werden uns nicht zum Komplizen dieser Justiz machen.
Umfragen zeigen, dass der ultrarechte Kandidat Jair Bolsonaro bei den Umfragen für die Wahlen immer weiter zulegt, auch viele Jugendliche aus den armen Randgebieten haben vor, für Bolsonaro zu stimmen.
Wir sehen Bolsonaro nicht als Konkurrenten, sondern als Kriminellen. Er hat sich mehrerer Verbrechen schuldig gemacht: Hassverbrechen, Rassismus, Homophobie, Sexismus und Anstiftung zur Gewalt. Kürzlich sagte er, dass wenn er die Wahl gewinne und das organisierte Verbrechen nicht aus Rocinha verschwinde, er die Favela mit Kugeln durchlöchern werde. Im Parlament hat er Folterer der Militärdiktatur geehrt, unter anderem jenen Mann, die die Ex-Präsidentin Dilma Rousseff gefoltert hat. Bolsonaro ist ein Verbrecher, der hinter Gitter gehört und nicht zur Wahl antreten sollte.
Dennoch ist er einer der beliebtesten Politiker in Brasilien und hat Chancen auf einen Wahlsieg. Wie wollen sie das verhindern?
Bolsonaro präsentiert sich als Neuheit und als Gegenspieler zum korrupten, politischen Establishment. Allerdings war er selbst die meiste Zeit seiner politischen Karriere Abgeordneter einer der korruptesten Parteien Brasiliens. Die Menschen sind so desillusioniert und hoffnungslos, dass sie dem Diskurs von Bolsonaro ein Echo geben. Wir müssen dieses Bild demaskieren und dafür sorgen, dass die Brasilianer das Vertrauen in die Politik zurückgewinnen – und zwar indem wir Zukunftsperspektiven aufzeigen.
Doch gerade wegen seiner harten Hand gegen das organisierte Verbrechen erfährt Bolsonaro viel Zustimmung. Die Gewalt in Brasilien ist in den vergangenen Monaten explodiert, die Debatte über die öffentliche Sicherheit dürfte den Wahlkampf maßgeblich bestimmen. Wie wird das Thema von Ihnen diskutiert?
Das Problem der öffentlichen Sicherheit ist groß. Wir müssen die Gewalt effektiv bekämpfen. Als Erstes muss aber verstanden werden, dass die Gewalt untrennbar mit der sozialen Ungleichheit zusammenhängt. Wo es weniger Sozialpolitik und weniger Möglichkeiten gibt, steigt die Gewalt. Das ist kein brasilianisches Phänomen, sondern überall auf der Welt der Fall. Wir diskutieren verschiedene Wege, die Gewalt zu bekämpfen, unter anderem mit Wissenschaftlern und einer Gruppe von antifaschistischen Polizisten.
Wie sehen die aus?
Wir haben einige Vorschläge. Als Erstes darf der Staat nicht länger Initiator der Gewalt sein. Die Polizei arbeitet in Brasilien mit einem Konzept des inneren Feindes – und dieser ist für sie der schwarze Jugendliche aus der Vorstadt. Diese Feindeslogik heizt die Gewalt nur noch weiter an. Wir brauchen eine tief gehende Reform und Demilitarisierung der Polizei. Zudem muss eine neue Strategie gefunden werden, die öffentliche Sicherheit für alle verspricht. Zweitens, der Krieg gegen die Drogen ist auf der ganzen Welt gescheitert. In Brasilien werden lediglich die kleinen Dealer angegriffen. Es ist ein Krieg gegen die Armen. Die großen Geschäfte bleiben unangetastet. Das hat dazu geführt, dass das organisierte Verbrechen noch viel mächtiger geworden ist. Daher müssen wir Drogen entkriminalisieren – denn das ist der effektivste Weg, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Unser dritter Punkt hat mit einer tief verankerten Kultur der Gewalt in der Gesellschaft zu tun. In Brasilien laufen zur besten Sendezeit Polizeisendungen im Fernsehen. Diese Shows zementieren die Kultur der Gewalt und schaffen ein tief sitzendes Gefühl der Unsicherheit. Unser Nachbar Uruguay hat vor einigen Jahren unter Ex-Präsident José Mujica ein interessantes Experiment gestartet. Die Fernsehsender durften Polizeishows nur noch nach 23 Uhr ausstrahlen. Das Ergebnis war, dass die Gewalt im Land gesunken ist. All dies sind Wege, die wir gehen müssen.
In den vergangenen Jahren haben sich Frauen immer mehr ihren Platz in politischen Auseinandersetzungen erkämpft. Wie beeinflussen feministische Debatten Ihre Kandidatur?
Die Ungleichheit hat verschiedene Stufen in Brasilien und Frauen stehen immer noch unten. Für die gleiche Arbeit verdienen sie weniger als Männer, auch in der Politik sind Frauen weiterhin extrem unterrepräsentiert. Obwohl sie die Mehrheit in der Bevölkerung sind, stellen sie nur zehn Prozent der Abgeordneten im brasilianischen Parlament. Dies ist Ausdruck einer tief sitzenden Ungleichheit. In Brasilien sterben außerdem jeden Tag vier Frauen an den Komplikationen von im Geheimen durchgeführten und schlecht ausgeführten Abtreibungen. Deshalb fordern wir, dass Frauen endlich über ihren eigenen Körper bestimmen können. Unser Programm ist also ein feministisches Programm. Denn, wer tief greifende Veränderungen umsetzen will, muss diese Debatten als zentral betrachten.
Ihre Parteikollegin Marielle Franco wurde brutal in Rio de Janeiro ermordet. Was bedeutet dieser Fall für Sie?
Der Tod von Marielle hat uns alle schwer geschockt. Sie war eine Kämpferin und wichtige Parteikollegin. Der Mord zeigt, wie tief die Wunde in der brasilianischen Demokratie sitzt. Das ist eine Nachricht von der anderen Seite: Sie sind bereit, alles zu tun. Wir müssen die Ermittlungen abwarten, aber es gibt Verdächtige. Marielle hat die Polizeigewalt in Rio de Janeiro öffentlich angeklagt, sich gegen die Militärintervention gestellt (im März übernahm das Militär die Kontrolle über die Sicherheit in Rio de Janeiro, Anm. d. Red.) und wurde zur Vorsitzenden einer Kommission im Stadtparlament über den Einsatz ernannt. Wir wollen wissen, wer sie ermordet hat und werden keine Ruhe geben, bis wir eine Antwort darauf bekommen. Marielle wird Gerechtigkeit erfahren. Ihr Kampf wird nicht umsonst gewesen sein.
*Guilherme Boulos ist Nationalkoordinator der Wohnungslosenbewegung MTST, die in den brasilianischen Städten für bezahlbaren Wohnraum und eine urbane Reform kämpft. Anfang März wurde der 35-Jährige von der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) als Präsidentschaftskandidat vorgestellt. Auf dem Weltsozialforum in Salvador da Bahia sprach Niklas Franzen für »nd« mit Boulos über seine Kandidatur und den Aufstieg der extremen Rechten in Brasilien
Fotos: Gerhard Dilger