Die Opposition will mit einem kalten Putsch die Präsidentin stürzen. Doch die konservativen Regierungsgegner*innen stecken selbst im Korruptionssumpf
Die brasilianische Regierung steht kurz vor dem Abgrund. Wegen eines Korruptionsskandals wird gegen Regierungsmitglieder ermittelt, parallel läuft ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff. Der konservative Koalitionspartner PMDB drohte, mit sechs Minister*innen die Regierung zu verlassen.
Von Thomas Fatheuer, Lateinamerika Nachrichten
„Dilma muss weg“ oder „Não vai ter golpe – es wird keinen Putsch geben“, so lauten die Parolen des Augenblickes in einem zutiefst gespaltenen Land. Nachdem sich die Ereignisse in den letzten Wochen überstürzten, steht die Regierung Dilma tatsächlich am Rande des Abgrundes.
Letzter Höhepunkt der sich überstürzenden Ereignisse war am 29. März die Aufkündigung des Regierungsbündnisses durch die PMDB (Partei der demokratischen Bewegung Brasiliens), dem größten Koalitionspartner der regierenden Arbeiterpartei PT. Während die PMDB-Abgeordneten das sinkende Schiff der Regierung verlassen, bleiben Vizepräsident Michel Temer und die anderen Kabinettsmitglieder der PMDB im Amt. Im Falle der Amtsenthebung von Dilma Rousseff würde Temer zum neuen Präsidenten Brasiliens. Damit hat die PMDB erneut die Aussicht, den Präsidenten des Landes zu stellen, ohne eine Wahl gewonnen zu haben. Ein Kunststück, das Itamar Franco bereits 1992 nach dem Impeachment gegen Fernando Collor gelungen war.
Am 31. März gab es dann erneut eine Kehrtwende: Die PMDB-Minister kündigten an, nun doch in der Regierung zu bleiben. Ob Rousseff sich dieses Hin und Her, das durch alle Medien ging, bieten lassen wird?
Die Ereignisse zeigen: Die politische Lage in Brasilien ist extrem volatil. Konnten die Unterstützter*innen der Regierung Dilma Rousseff Anfang 2016 noch Hoffnung haben, dass sich das bereits im letzten Jahr eingeleitete Amtsenthebungsverfahren totläuft, ist nun die Opposition in die Offensive gegangen.
Die nicht enden wollenden Enthüllungen über Korruptionsskandale und die schlechte wirtschaftliche Lage haben zu einer Erosion der Unterstützung der Regierung durch die Bevölkerung geführt. Die Popularität der Präsidentin sank im Sturzflug. Und fast jeden Tag führten die Ermittlungen der Justiz im Rahmen der Operation der Bundespolizei Lava Jato (Autowäsche) zu neuen Verhaftungen.
Es waren vor allem Persönlichkeiten aus der Baubranche, die 2015 ins Gefängnis wanderten. Der ehemalige Präsident und Enkel des Gründers des Bauunternehmens Odebrecht, Marcelo Odebrecht, wurde im vergangenen Juni wegen Korruption und Geldwäsche verhaftet. Nun wurde er Anfang März zu 19 Jahren Haft verurteilt. Ein zweiter Schwerpunkt der Ermittlungen ist der staatliche Ölkonzern Petrobras. Die Unternehmen haben ihre Schmiergelder vor allem an konservative Politiker*innen aus dem Lager des Regierungsbündnisses gezahlt, die damit auf Regierungslinie gebracht wurden.
Kritiker*innen werfen der Justiz Einseitigkeit vor: zu offensichtlich konzentrierten sich die Ermittlungen auf die Regierung und insbesondere die Arbeiterpartei PT. Für die Regierung und auch die meisten ihrer linken Kritiker*innen ist die Justiz zu einem politischen Instrument der Rechten geworden, der die Korruptionsskandale nur zum Vorwand dienen.
Eduardo Cunha, der Präsident des Parlaments, verkörpert die Ambivalenzen der aktuellen politischen Prozesse in Brasilien wie kein anderer. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn und konnte Schweizer Konten mit Schwarzgeld in Höhe von 2,4 Millionen US-Dollar identifizieren. Einer der Angeklagten im Lavo-Jato-Prozess, der Baumogul Julio Camargo, sagte aus, dass Cunha Schmiergelder in Höhe von fünf Millionen US-Dollar für die Vermittlung von Staatsaufträgen gefordert habe. Durch diese und andere Vorwürfe ist Cunha inzwischen zu einem Symbol der Korruption der politischen Elite geworden.
Cunha gehört der konservativen PMDB an – der Partei, die das Regierungsbündnis aufgekündigt hat. Als im vergangenen Jahr mit Stimmen von Abgeordneten der PT ein Amtsenthebungsverfahren gegen Cunha beschlossen wurde, besiegelte dies den Bruch zwischen ihm und der Regierung. Daraufhin beschleunigte Cunha die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Rousseff, obwohl gegen sie bislang kein Korruptionsvorwurf erhoben wurde. Das Impeachmentverfahren wird vielmehr mit Verstößen gegen das Haushaltsrecht begründet. Die Regierung soll sich ohne Zustimmung des Parlaments kurzfristig Geld bei Staatsbanken geliehen haben.
Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und Veröffentlichung der Schweizer Konten schien Cunha politisch erledigt, aber nun erteilt er eine Lektion über die Qualitäten der politischen Eliten. Cunha ist jenseits der Parteiengrenzen gut vernetzt und zieht nun alle Register der Parlamentsordnung. Mit dem Ergebnis, dass das Verfahren gegen ihn dahinvegetiert, während das gegen Rousseff an Fahrt gewinnt.
Dazu bedurfte es aber auch der Schützenhilfe der Justiz und der Medien. Diese schossen sich in den letzten Wochen immer mehr auf den Expräsidenten Luis Inácio Lula da Silva ein. Bald kannten alle Brasilianer*innen ein von ihm und seiner Familie genutztes Ferienhaus samt Tretbooten, dessen Renovierung nach Ende seiner Präsidentschaft von Baufirmen bezahlt worden war.
Im März überschlugen sich die Ereignisse: Lula wurde mit großem Aufwand und Medienbeteiligung zu einer Vernehmung zwangsvorgeführt. Lula nutzte die Aktion, um einen Gegenangriff zu starten und eine aktive Rolle im Kampf gegen den drohenden Sturz der Regierung Rousseff zu übernehmen. Dilma Rousseff ernannte ihn zum Minister. Er sollte eine Rolle übernehmen, die der eines Regierungskoordinators entspricht. Kritiker*innen vermuteten dagegen, dass Lula durch die Berufung in die Regierung dem Zugriff des ermittelnden Staatsanwaltes Moro entzogen werden sollte.
Doch der Amtsantritt wurde durch eine einstweilige Verfügung der Justiz blockiert, die endgültige Entscheidung liegt nun beim obersten Gerichtshof und stand bei Redaktionsschluss noch aus. Gleichzeitig wurden Mitschnitte der Bundespolizei von Telefonaten von Lula – auch mit Präsidentin Rousseff – illegal veröffentlicht. All dies verfestigte bei den Unterstützer*innen der Regierung die Überzeugung, die Justiz sei nun in Zusammenarbeit mit den Medien zu einer politisch agierenden Partei geworden.
Spektakuläre Verhaftungen von Personen aus dem Regierungslager vervollständigen das Bild. Bereits im November 2015 war Delcído do Amaral, damals PT-Mitglied und Führer der Regierungsfraktion im Senat, verhaftet worden. Einen Tag vor Lulas Prozess wurden Teile von Amarals Aussagen veröffentlicht, in denen er Lula und Rousseff beschuldigt, von den Korruptionsseilschaften gewusst zu haben.
Beflügelt durch die neuen Entwicklungen mobilisierten Regierungsgegner*innen landesweite Kundgebungen am 13. März. Nach Angaben des Statistikinstituts der überregionalen Zeitung Folha de São Paulo, Datafolha, gingen allein in São Paulo 500.000 Menschen auf die Straße, die Veranstalter*innen wollen über eine Million gezählt haben. So oder so waren es die größten Kundgebungen in der Geschichte Brasiliens.
Gegen das drohende Impeachment gingen dann am 18. März ebenfalls viele Menschen auf die Straße, aber doch deutlich weniger als fünf Tage zuvor. In São Paulo etwa zählte Datafolha 95. o00 Menschen.
Um die Interpretation der Lage ist inzwischen ein heftiger Kampf der Narrative entfacht. Für das Regierungslager , aber auch regierungskritische Linke, ist das Impeachment ein kalter Putsch. „Não vai ter golpe – es wird keinen Putsch geben“, dieser Slogan hat sich inzwischen als einigende Parole der Proteste gegen den Versuch des Sturzes der Präsidentin durchgesetzt.
Zwar ist das Verfahren in der Verfassung vorgesehen, bezweifelt wird aber die juristische Begründung und die ethischen Legitimität der Abgeordneten, die darüber entscheiden. Tatsächlich wird das Verfahren dadurch diskreditiert, dass an seiner Spitze die korruptesten Politiker*innen des Kongresses stehen.
Ciro Gomes, Ex-Minister der Regierung Lula und einer der progressiven Politiker außerhalb der PT, bezeichnete die Betreiber*innen des Impeachment als „Bande von Räubern“. Für die Regierungsanhänger*innen ist das wahre Motiv hinter dem Impeachment, die sozialen Errungenschaften der PT-Jahre rückgängig zu machen.
„Wir werden für unsere Erfolge angegriffen, nicht für unsere Fehler“, urteilte Valter Pomar, ein einflussreicher Sprecher der PT-Linken. Das mag für die Auseinandersetzungen im Parlament stimmen, erklärt aber nicht den massiven Verlust der Unterstützung der Regierung bei der Bevölkerung. Viele, die gegen den drohenden Putsch protestieren, sehen sich in einem Dilemma: Sie wollen die Aktionen der rechten Opposition zurückweisen, identifizieren sich aber nicht mit der Politik von Rousseffs Regierung. So kritisieren soziale Bewegungen und Linke innerhalb und außerhalb der PT seit langem den wirtschaftspolitischen Rechtsschwenk der Rousseff-Regierung.
Für viele Brasilianer*innen sind die gebetsmühlenartig wiederholten Erfolge der Regierung der PT bei der Armutsbekämpfung inzwischen in den Hintergrund getreten: Wirtschaftskrise und Korruption prägen die Wahrnehmung.Guilherme Boulos von der Bewegung der Wohnungslosen (MTST) fasste das Dilemma in Worte: „Wir können die Politik, die die Regierung Dilma macht, nicht verteidigen. Die Demokratie zu verteidigen, bedeutet nicht, diese Regierung zu verteidigen.“ Für den Fall eines Impeachment prognostizierte Boulos schwere soziale Unruhen.
Und so steuert Brasilien eher auf eine tragische Situation zu: Der Kampf gegen Korruption wird durch eine politisch einseitig agierende Justiz und durch Politiker*innen der Opposition für machtpolitische Interessen instrumentalisiert.
Eine andere Interpretation der Ereignisse ist aber auch denkbar: Mitten im hektischen Monat März sickerte eine Liste des Bauunternehmens Odebrecht durch, in der systematisch und akribisch Zuwendungen an Politiker*innen aufgeführt werden. Die Liste ist vielleicht ein Schlüsseldokument der letzten Jahre: Sie beinhaltet sowohl Namen der Opposition als auch des Regierungslagers. Sie zeigt, dass Korruption nicht parteipolitisch ist, sondern systemisch.
Mit solchen Enthüllungen träfe Lava Jato nicht nur die Regierung, sondern praktisch die gesamte politische Elite des Landes. Bei den Demonstrationen am 13. März wurden auch Politiker*innen der Oppositionsparteien von aufgebrachten Demonstrant*innen verjagt. Das Motto: „Sollen sie doch alle abhauen“ macht sich breit.
Lavo Jato gerät so in Gefahr, keine politische Erneuerung – und sei es auch eine konservative –, sondern einen Scherbenhaufen zu produzieren. Das nun hektisch vorangetriebene Impeachment könnte dann dem Zweck dienen, möglichst schnell die konservativen Kräfte unter einen Hut zu bringen. So könnte ein Konsens, ein sogenannter acordão, erreicht werden, Lava Jato zu beenden oder an die Leine zu legen, bevor die Ermittlungen gegen Konservative zu Ende gebracht wurden. Dafür hat ein Cunha die nötige Chuzpe.
Die Würfel sind zwar geworfen, aber noch nicht gefallen. Dilma Rousseff könnte einem Impeachment entkommen, auch wenn sie wenig Rückhalt in der Bevölkerung hat: Immerhin braucht die Opposition eine Zweidrittelmehrheit, um das Verfahren in Gang zu setzen.
Fotos: Rovena Rosa/Agencia Brasil (2), Tania Rego/Agencia Brasil, Agencia Brasil via Wikimedia Commons
LN-Brasilien-Thomas Fatheuer Seite 14-01-04-16