Zu den Folgen des vereinigten Arbeitsmarktes, freien Personenverkehrs und des Dienstleistungsmarktes in der EU – Vortrag in Moskau, Mai 2015
Von Andrej Hunko, MdB DIE LINKE
Die europäische Integration wurde in ihrer Frühphase, zur Zeit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), überwiegend als „positive Integration“ durch Angleichung der verschiedenen Regelungen auf eine einheitliche Standards (Harmonisierung) oder zumindest durch die Schaffung von Mindeststandards verstanden. Die Form war in der praktischen Umsetzung einerseits ausgesprochen kompliziert und zeitaufwendig. Andererseits widersprach sie neoliberalen Vorstellungen, dass möglichst viel durch Marktmechanismen gestaltet werden soll und möglichst wenig durch politische und damit demokratisch entschiedene oder zumindest kontrollierte politische Regelungen.
Nach der „Niederlage“ der sozialistischen Länder und mit der umfassenden Durchsetzung neoliberaler Konzeptionen in den USA und in Großbritannien wurde mit dem Vertrag von Maastricht zur Gründung der Europäischen Union (EU), der am 1. November 1993 in Kraft trat, die Veränderung in Richtung einer „negativen Integration“ vorgenommen: Vorrangiges Integrationsprinzip wurde die „gegenseitige Anerkennung“, die besagte, dass in allen Bereichen, in denen es auf Gemeinschaftsebene keine Harmonisierung gibt, jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, in seinem Bereich Waren und Dienstleistungen zu akzeptieren, die den Anforderungen in einem anderen Mitgliedstaat entsprechen. Das soll grundsätzlich auch gelten, wenn für inländische Erzeugnisse andere, insbesondere höhere Anforderungen gelten – in Bezug auf Sozialstandards sowie den Verbraucher- und Umweltschutz. Dieses Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wurde im Übrigen vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) auch ohne ausdrückliche EU-vertragliche Regelung schon im Jahr 1979 (Cassis-de-Dijon-Urteil) formuliert.
Dienstleistungsrichtlinie
Der Grundsatz der Niederlassungsfreiheit (Artikel 49ff. AEUV) und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wirken sich im Bereich von Dienstleistungen dadurch zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus, dass Dienstleistungsunternehmen mit Niederlassung in einem Mitgliedstaat ihre Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbringen können, ohne dort ebenfalls eine Niederlassung zu begründen. Dabei gelten im Wesentlichen die Bestimmungen des Landes, in dem der Dienstleistungserbringer seine Niederlassung hat. Das ergibt sich insbesondere aus den Regelungen in Artikel 16 der Richtlinie der EU vom 12. Dezember 2006 über „Dienstleistungen im Binnenmarkt – Dienstleistungsrichtlinie“ (EU-Amtsblatt L 376/36).
In der endgültigen Fassung der verabschiedeten Richtlinie hat der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistungsarbeiten erbracht werden, allerdings deutlich mehr Regelungsmöglichkeiten als in dem ursprünglichen Entwurf der EU-Kommission. Das ist auf die lang anhaltenden und intensiven Auseinandersetzungen von gewerkschaftlichen Kräften, Vertreterinnen und Vertretern der gesellschaftlichen Linken und ökologischen Akteuren in den verschiedenen Mitgliedstaaten zurückzuführen.
Allerdings sind diese Möglichkeiten vor allem dadurch begrenzt, dass die Dienstleistungsunternehmen in dem Land, in dem sie die Dienstleistung (gegebenenfalls auch mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus ihrem Herkunftsland) erbringen wollen, keiner besonderen Genehmigung bedürfen und auch nicht zur Einrichtung einer bestimmten Infrastruktur für die Leistungserbringung angehalten werden können. Zudem können die Unternehmen nur sehr beschränkt von den Behörden des Landes, in dem sie die Dienstleistungen erbringen, angehalten werden, zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher bestimmte vertragliche Regelungen mit den jeweiligen Empfängern der Dienstleistungen zu vereinbaren. Damit sind die Möglichkeiten für den Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistungen angeboten und erbracht werden, insgesamt beschränkt, positive Regelungen für die Lohnabhängigen und für die Verbraucher durchzusetzen. Weitgehend haben also etwaige niedrigere Standards in den Herkunfts- bzw. Niederlassungsländern Vorrang.
Das führt vielfach dazu, dass Großkonzerne aus Ländern, in denen höhere Standards bestehen, Niederlassungen dort gründen, wo die Standards niedriger sind. Von dort aus können sie dann in ihrem ursprünglichen Herkunftsland ihre Dienstleistungen kostengünstiger und profitabler anbieten – zum Schaden der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Verbraucherinnen und Verbraucher und der Umwelt.
Verschärfung durch Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA
Das weitgehend ausverhandelte Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) und das öffentlich besonders stark beachtete Abkommen über die „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ (TTIP) zwischen den USA und der EU sind noch stärker an neoliberalen Vorstellungen ausgerichtet als die EU-internen Binnenmarktregelungen seit dem Vertrag von Maastricht.
In den Leitlinien des Rats der EU für die Verhandlungen über TTIP vom 17. Juni 2013 (11.103/13) heißt es in Ziffer 3 ausdrücklich: „Das Abkommen wird die beiderseitige Liberalisierung des Handels mit Waren und Dienstleistungen sowie Regeln zu handelsbezogenen Fragen vorsehen, wobei es ehrgeizige Ziele verfolgt, die über die bestehenden WTO-Verpflichtungen hinausgehen.“ In Ziffer 25 dieses Dokuments wird als eines der Mittel zur Erreichung der Ziele des Abkommens dann auch ausdrücklich die „gegenseitige Anerkennung“ aufgeführt und damit die Herrschaft von Markt und Profitinteresse in den Vordergrund gestellt.
Wenn dieses Abkommen abgeschlossen und umgesetzt wird, sind – insbesondere in der EU und ihrem Mitgliedstaaten – erhebliche Nachteile in Bezug auf einzelne Arbeitsverhältnisse und das kollektive Arbeitsrecht sowie im Verbraucher- und Umweltschutz zu befürchten.
Wichtige Sozialstandards zum Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind in verschiedenen Vereinbarungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) niedergelegt, um eine Verschlechterung der Situation im Bereich internationaler Handelsbeziehungen möglichst zu verhindern: „Mit weltweit anerkannten Sozialstandards soll verhindert werden, dass sich einzelne Teilnehmer am internationalen Handel durch Abbau von Arbeitnehmerrechten und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen Vorteile verschaffen. Dahinter steht die Idee, dass nur durch eine internationale Vernetzung des sozialpolitischen Regelwerks faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden können.“ (Ziele und Aufgaben der ILO)
Die EU und Deutschland haben nur einen Teil der ILO-Abkommen abgeschlossen und ratifiziert. Bei den USA sind es noch weniger. Schon insofern ist nach wirksamem Abschluss des TTIP-Abkommens unter dem Aspekt der „gegenseitigen Anerkennung“ mit deutlichen Verschlechterungen der Situation innerhalb der EU zu rechnen.
Hinzu kommt, dass Regelungen in der EU und in ihren Mitgliedstaaten in den Bereichen des individuellen Arbeitsrechts wie bei den gewerkschaftlichen Rechten und der Mitbestimmung auf betrieblicher und auf der Ebene der Unternehmen faktisch außer Kraft gesetzt werden können.
Besonderes Gewicht haben auch die prinzipiell unterschiedlichen Umweltschutzregelungen: Das für den europäischen Verbraucher- und Umweltschutz essentielle „Vorsorgeprinzip“ gilt in den USA nicht. Stattdessen wird dort auf eine „wissenschaftlich basierten Risikoabschätzung“ abgestellt, was im Ergebnis die Umkehr der Beweislast bei der Frage der Zulassung von Produkten und Produktionsverfahren ermöglicht.
Verschärft wird die Problematik noch durch Überlegungen für eine „regulatorische Kooperation”, um künftig Regularien, Normen und Gesetze vorab einer noch zu schaffenden Regulierungsinstanz vorzulegen, in denen Lobbyisten exklusiver Zugang und Mitspracherechte eingeräumt würden und dadurch die Parlamente weiter entmachtet. Hinzu kommen Vorschläge zum Investitionsschutz und zur Einführung einer privat organisierten „Schiedsgerichtsbarkeit“, vor der Unternehmen gegen beteiligte Staaten klagen und so ihre Interessen und Ziele außerhalb des Rechtstaatsprinzips durchsetzen können.
Insgesamt ist zu befürchten, dass nach dem Abschluss des TTIP- und der Inkraftsetzung des CETA-Abkommens eine weitere Verschlechterung der Sozialstandards sowie des bisherigen Niveaus des Verbraucher- und von Umweltschutzes in der EU durchgesetzt werden wird.
Fazit
Der den Profitinteressen der Großkonzerne und neoliberalen Ideologien geschuldete Übergang von der „positiven“ zur „negativen“ Integration im Rahmen der Europäischen Union führte einerseits dazu, dass umfassende Regelungen nicht mehr politisch und damit tendenziell demokratisch, sondern marktförmig entsprechend den Profitinteressen der Unternehmen erfolgen. Das bedeutet zugleich Verschlechterungen im Bereich der sozialen Standards, des Verbraucher- und Umweltschutzes.
Eine weitere Verschärfung von zunehmender Entdemokratisierung und dem Abbau von Standards ist durch die geplanten und vorbereiteten umfassenden „Freihandelsabkommen“ zu befürchten.
Dagegen ist Protest und Widerstand erforderlich – gegen die EU-Kommission und gegen die deutsche Bundesregierung mit Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Spitze, gegen die Regierungen der anderen EU-Mitgliedstaaten und auch gegen alle weiteren gesellschaftliche und politischen Kräfte und Institutionen, denen es nicht um das Wohl und den Schutz der Menschen, sondern um den Eigentumsschutz und das Profitinteresse der Wirtschaftsunternehmen geht.