Kaum ein Land sperrt so viele Menschen ein wie Brasilien. In den letzten 30 Jahren hat sich die Gefängnisbevölkerung um das Siebenfache erhöht. An der Politik der Masseninhaftierung zeigen sich viele Grundprobleme der brasilianischen Gesellschaft: soziale Ungleichheit, Rassismus, Gewalt. Doch es regt sich Widerstand
Von Niklas Franzen
Immer noch füllen sich Maria da Silvas große, schwarze Augen mit Tränen, wenn sie an die Zeit zurückdenkt. „Als mein Sohn ins Gefängnis kam, wurde auch ich verhaftet.“ Die schwarze Frau mit den langen, krausen Haaren und dem ernsten Gesichtsausdruck stammt aus der Megametropole São Paulo. Sie ist eine von hunderttausenden Müttern, die ein Kind im Gefängnis besuchen musste. Mehrere Jahre sind seit der Haft ihres Sohnes vergangen. Heute sagt sie: „Was im Gefängnis passiert, ist Folter.“
Denn: Die Bedingungen in den Gefängnissen sind unmenschlich. In vielen Haftanstalten sitzen fünfmal so viele Menschen ein, wie es die Kapazität zulässt. Die Gesundheits- und Hygienebedingungen sind katastrophal. Doch auch die Angehörigen der Gefangenen leiden. „Wir wurden gedemütigt und schikaniert“, erinnert sich da Silva. Für Verwandte von Gefängnisinsassen gibt es keine Unterstützung vom Staat. Deshalb gründete da Silva mit einer Handvoll Mitstreiter*innen die Organisation AMPARAR. Seit mehreren Jahren leisten die größtenteils weiblichen Aktivist*innen psychologische und juristische Unterstützung für Angehörige, begleiten Mütter und Väter bei Besuchen – und klagen ein System an, das eine ganze Generation ihrer Freiheit beraubt.
AMPARAR war eine von vielen Gruppen, die das Thema der Masseninhaftierung auf dem diesjährigen Weltsozialforum (WSF) auf die Agenda setzte. Das WSF fand vom 13. bis 17. März in der nordöstlichen Millionenstadt Salvador da Bahia statt. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützte mehrere Veranstaltungen über die Politik der Masseninhaftierung in Brasilien. Das Thema wurde viel zu lange von der Linken ignoriert, meint Ingrid Farias bei einer Diskussionsveranstaltung in der tropischen Mittagshitze der Küstenmetropole. Die Aktivistin mit den tätowierten Armen, blondgefärbten Dreadlocks und der großen Hipsterbrille kämpft seit Jahren dafür, dass sich das ändert.
Brasilien hat heute die drittmeisten Gefangenen der Welt. Unlängst überholte das Land sogar Russland. Zwischen 1990 und 2014 hat sich die Gefängnisbevölkerung um das Siebenfache erhöht. Die Masseninhaftierung ist neben der extremen Gewalt von Sicherheitskräften gegen Bewohner*innen armer Stadtteile ein Zahnrad des Krieges gegen die Drogen. Die meisten Gefangenen in Brasilien sitzen wegen Drogendelikten ein. Gerichtsprozesse gegen Kleindealer*innen oder auch Konsument*innen dauern oft nur Minuten und gehen ohne Pflichtverteidiger*innen vonstatten, häufig nur mit Polizist*innen als Zeug*innen. Eine winzige Menge Drogen kann ausreichen, um hinter Gitter zu landen – wenn man sich keinen Anwalt leisten kann.
Der Krieg gegen die Drogen in Brasilien ist laut Marcelo Naves von der links-katholischen Gefängnispastorale vor allem ein „Krieg gegen die Armen“. Die große Mehrheit der heutigen Gefangenen: jung, arm und schwarz. Afrobrasilianer*innen landen überproportional häufig im Gefängnis. Die Aktivistin Beatriz Nascimento von der Schwarzenbewegung Uneafro meint: „Unsere Jugendlichen, die nicht von der Polizei in den Favelas ermordet werden, landen im Gefängnis“. Hinter Gitter kam man die Probleme der brasilianischen Gesellschaft wie unter dem Brennglas betrachten: soziale Ungleichheit, Rassismus, Gewalt.
Die überfüllten Haftanstalten sind Nährboden für kriminelle Organisationen. Viele Gefangene schließen sich erst hinter Gitter einer Drogengang an. Passenderweise werden Gefängnisse in Brasilien auch „Schulen des Verbrechens“ genannt. Regelmäßig kommt es dort zu Aufständen. Im vergangenen Jahr starben Hunderte bei Massakern hinter Gefängnismauern, die Bilder gingen um die Welt. Ein gescheitertes Modell also? Nein, meint die Aktivistin Farias. „Das Gefängnissystem ist nicht gescheitert. Die Strategie geht auf: nämlich die Kontrolle der armen, schwarzen Bevölkerung.“ Bei den Diskussionen auf dem Weltsozialforum wurde deutlich, dass die Politik der Masseninhaftierung systematischen Charakter hat. Und es wurde zudem klar, dass viele der derzeitigen Probleme, wie der Anstieg der Gewaltverbrechen oder die Stärke des organisierten Verbrechens, ihre Ursprung im Strafsystem haben.
Bei vielen Diskussionen auf dem Weltsozialforum über die Politik der Masseninhaftierung lag der Fokus auf der Situation der Frauen. Aber was haben Frauen mit dem Thema zu tun? Schließlich ist die große Mehrheit der Gefängnisinsassen männlich. Viel, meint Farias. Als Mütter und Ehefrauen leiden auch sie unter der Politik der Masseninhaftierung. Sie meint: „Wir brauchen unsere Männer, auch das ist Feminismus.“ Die Autorin Juliana Borges stimmt zu: „Wir schwarze Frauen kämpfen für alle Schwarzen – auch für die Männer.“ Außerdem landen immer mehr Frauen im Gefängnis. Zwischen 2006 und 2014 hat sich die weibliche Gefängnisbevölkerung fast versechsfacht. Über 42.000 weibliche Gefangene gibt es derzeit in Brasilien, nur in vier Ländern sind es mehr.
AMPARAR beteiligt sich zusammen mit Organisationen wie der Gefängnispastorale an der „Nationalen Agenda der Deinhaftierung“. Das Bündnis fordert unter anderem die Entkriminalisierung von Drogen, Präventionsmaßnahmen gegen Folter, den Baustopp von Gefängnissen und die Demilitarisierung der Polizei. Die Aktivist*innen wollen außerdem eine Diskussion über alternative Formen der Konfliktlösung in Gang treten. Ihr Ziel: Eine Welt ohne Gefängnisse.
Auch Maria da Silva will weiterkämpfen. Zwar sei ihr Sohn frei. Hunderttausende Brasilianer*innen sitzen aber weiterhin in Haft – und mit ihnen hunderttausende Mütter und Väter.
Foto: Tainã Mansani