Vor 75 Jahren wurde Leo Trotzki ermordet. Die Linke des 21. Jahrhunderts kann viel von der Auseinandersetzung mit seinen Ideen lernen
Von Florian Wilde*
Am 20. August 1940 zertrümmerte ein Eispickel, geschwungen durch einen vom sowjetischen Geheimdienst angeheuerten Mörder, den Schädel Leo Trotzkis – und damit einen der brillantesten marxistischen Köpfe des 20. Jahrhunderts. Sechsundzwanzig Stunden später endete ein Leben, in dem sich wie in wenigen anderen die ganze Tragik dieses »Jahrhunderts der Katastrophen« spiegelte.
Aus einer jüdischen Familie stammend, hatte sich der 1879 als Lev Dawidowitsch Bronstein geborene Trotzki früh der marxistischen Untergrundbewegung im russischen Zarenreich angeschlossen. Verhaftung, Verbannung nach Sibirien, Flucht und Exil prägten seine Jugend und sollten auch sein restliches Leben beeinflussen. Die meiste Zeit dieses Lebens führte Trotzki eine randständige Existenz, sowohl innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, als auch in der Arbeiterbewegung, an deren revolutionärer Peripherie er – oft ziemlich isoliert – stand.
Sein erster Tarnname lautete »die Feder«, und zeitlebens blieb der Schreibstift seine wichtigste Waffe. Unermüdlich verfasste er Artikel und Bücher über sozialistische Politik und Theorie, aber auch über Kunst, Kultur und Literatur.
Permanente Revolution
Es bedurfte großer, die ganze Gesellschaft erfassende revolutionäre Erhebungen, um jemanden wie ihn zeitweilig in die Zentren der Macht zu katapultieren. Zum ersten Mal widerfuhr dies dem herausragenden Redner in der russischen Revolution des Jahre 1905, als der gerade einmal 28-Jährige zum Vorsitzenden des Arbeiterrates von St. Petersburg gewählt wurde. Nach der Niederschlagung der Revolution folgten wieder einmal Verhaftung, Verbannung, Flucht und Exil.
Aus den Erfahrungen von 1905 entwickelte Trotzki die Theorie der »Permanenten Revolution«. Sie stellt seinen originellsten Beitrag zur Weiterentwicklung des Marxismus dar.
Ebenso wie Lenin ging er davon aus, dass die Bourgeoisie in Russland – anders als noch 1789 in Frankreich – keine revolutionäre Rolle spielen werde und dementsprechend keine bürgerlich-demokratische kapitalistische Gesellschaftsordnung erkämpfen könne. Träger der Revolution müsse daher das zwar noch kleine, aber in ökonomischen Schlüsselpositionen arbeitende Proletariat im Bündnis mit den Massen der Bauern sein. Trotzki ging aber in seiner Einschätzung einen bedeutenden Schritt weiter als Lenin: Aufgrund der »kombinierten und ungleichzeitigen Entwicklung« im Zeitalter des Imperialismus sei in einem unterentwickelten Land wie Russland nicht nur eine bürgerliche, sondern auch eine sozialistische Revolution unter Führung der Arbeiterklasse möglich, so seine prophetische These.
Sein Argument war einfach: Eine Revolution unter Führung des Proletariats könne sich nicht auf bürgerlich-demokratische Aufgaben wie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts beschränken. Vielmehr müsse sie auch Antworten auf die soziale Frage liefern, also die Lebenssituation der Arbeiterinnen und Arbeiter nachhaltig und grundlegend verbessern. Dies sei aber nur möglich, wenn das Proletariat die Kontrolle über die Produktion übernähme – was wiederum eine Dynamik auslösen könne, die zu einer sozialistischen Revolution überleite. Eine solche sei jedoch zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht als Auftakt zu weiteren Erhebungen in den entwickelten Ländern fungiere, sondern isoliert bliebe.
Der Revolutionär Trotzki
Auch in der Exilzeit nach 1905 war Trotzki eine wichtige Figur der revolutionären Linken Russlands, obwohl er sich weder den Menschewiki noch Lenins Bolschewiki anschließen mochte. Erst die Politik der Bolschewiki nach der Februarrevolution von 1917, vor allem deren konsequente Orientierung auf eine Machtübernahme mit sozialistischer Zielstellung, ließ ihn in die Partei Lenins eintreten. Und wieder wählten die Delegierten des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrates den eben nach Russland Zurückgekehrten zu ihrem Vorsitzenden. Als solcher spielte er eine Schlüsselrolle bei der politischen und militärischen Vorbereitung des Oktoberumsturzes, und dann beim Aufbau des Sowjetstaates. Glänzend hatte der Verlauf der Russischen Revolution die Annahmen der Theorie der »Permanenten Revolution« bestätigt.
Der junge Sowjetstaat sah sich jedoch durch existenzielle Bedrohungen von außen und innen konfrontiert. Ohne selbst eine militärische Ausbildung absolviert zu haben, übernahm Trotzki in dieser Situation die Leitung der Roten Armee und organisierte die erfolgreiche Verteidigung Sowjetrusslands gegen die weißgardistische Konterrevolution und gegen imperialistische Interventionsheere. In der Frühzeit der internationalen kommunistischen Bewegung wurde sein Name in einem Atemzug mit dem Lenins genannt. Beider Portraits hingen weltweit auf Kongressen nebeneinander.
Doch so, wie die Russische Revolution den ersten Teil der Theorie der »Permanenten Revolution« – die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in einem unterentwickelten Land – bestätigt hatte, bestätigte das weitere Schicksal Sowjetrussland auch deren zweiten Teil: Die erhofften Revolutionen im entwickelten Westen blieben aus, was letztendlich zum Scheitern des sowjetrussischen Sozialismusexperiments führen musste.
Das Scheitern einer isolierten Revolution
Zwar hatte die Russische Revolution tatsächlich den Auftakt zu einer revolutionären Welle in Europa und darüber hinaus gebildet. Doch ohne die Existenz kommunistischer Parteien, die dort eine ähnliche Rolle wie die Bolschewiki in der Russischen Revolution hätten spielen können, erfuhren die Bewegungen im Westen bittere Niederlagen: In Deutschland beispielsweise wurden die Bestrebungen, eine Rätedemokratie zu etablieren, blutig niedergeschlagen. In Italien endeten die »Roten Jahre« der Fabrikbesetzungen mit dem Sieg von Mussolinis Faschisten.
In Russland selbst hatten Bürgerkrieg und Zusammenbruch der Wirtschaft zur weitgehenden Auflösung der Arbeiterklasse geführt. Von dem durch Räte demokratisch kontrollierten Arbeiterstaat, der 1917 aufgebaut worden war, blieb bald nur noch die Hülle des Staatsapparates übrig. Dessen Bürokratie begann, eigene Interessen zu entwickeln. Den personifizierten Ausdruck dieser Interessen fand sie in Stalin, der als Generalsekretär der Kommunistischen Partei eine Schlüsselrolle in den Apparaten spielte.
Und so begann nach Lenins Tod im Januar 1924 auch Trotzkis Abstieg. In den Kämpfen um die Nachfolge hatte Stalin mit seinem Zugriff auf den Parteiapparat von Anfang an die Oberhand. Aber Trotzki stand Stalin nicht nur als Person, sondern auch politisch im Wege. Sein Internationalismus war mit Stalins Projekt eines »Sozialismus in einem Lande« unvereinbar, ebenso wie sein Anti-Bürokratismus und sein Beharren auf der Wiederbelebung der Demokratie in Partei und Räten es mit dem Aufbau eines totalitären Staates waren. Er wurde daher erst aus dem Zentralkomitee, dann aus der Partei ausgeschlossen, erneut verbannt und schließlich in die Türkei ausgewiesen. Auch die Parteien der sich »stalinisierenden« Kommunistischen Internationale wurden von Trotzkis Anhängern »gesäubert«.
Einheitsfront gegen die Nazis
In den folgenden Jahren richtete Trotzki seinen Blick zunehmend nach Deutschland. Von seinem Exil auf der türkischen Insel Prinkipo aus war er ohnmächtig dazu verurteilt, den Aufstieg Hitlers zu beobachten. Dies war umso bitterer angesichts der Tatsache, dass seine Faschismusanalysen zu den klarsten gehören, die der Marxismus hervorgebracht hat.
Während die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) auf Weisung Stalins nicht etwa die NSDAP, sondern die SPD zum Hauptfeind erklärte, argumentierte Trotzki in zahlreichen Artikeln und Broschüren für eine Einheitsfront der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Nazis. Die Kommunisten müssten treibende Kraft eines gemeinsamen antifaschistischen Kampfes aller Arbeiterorganisationen und eines gemeinsamen Kampfes gegen die Abwälzung der Kosten der Weltwirtschaftskrise auf die Arbeiterschaft werden. Aus erfolgreichen gemeinsamen Abwehrkämpfen könne die Arbeiterklasse die Kraft schöpfen, positive Antworten einer sozialistischen Alternative gegen das Elend der Weltwirtschaftskrise zu entwickeln.
Auch wenn seine Broschüren in Deutschland in hohen Auflagen verbreitet wurden: Ihm fehlte eine organisierte massenhafte Anhängerschaft, um den Weg Deutschlands in den Abgrund wirklich beeinflussen zu können.
Die Gründung der IV. Internationale
Diese sollte ihm auch die IV. Internationale nicht mehr verschaffen, die er 1938 ins Leben rief, um eine Alternative zur stalinisierten Kommunistischen Internationale (Komintern) aufzubauen. Stalin hatte bereits mit der der systematischen Ermordung der Angehörigen und Anhänger Trotzkis rund um den Globus begonnen. Die Jagd auf die Trotzkisten bildete den Auftakt zum »Großen Terror«, mit dem Stalin die Träger der revolutionären Tradition von 1917 physisch ausrottete. Auch viele ehemalige Mitstreiter Lenins wurden in den »Moskauer Prozessen« aufgrund aberwitziger Vorwürfe verurteilt und anschließend hingerichtet.
Trotzki deckte »Die Verbrechen Stalins«, so der Titel eines seiner bekannten Werke, schonungslos auf und prangerte sie an. Zu diesen Verbrechen zählte er auch die groteske Entstellung, die der Marxismus in der dogmatischen Karikatur des »Marxismus-Leninismus« erfuhr.
Wer glaubte, dieser konsequente Gegner Hitlers und Stalins würde wenigstens in den westlichen Demokratien Sicherheit und ein dauerhaftes Asyl finden, wurde eines Besseren belehrt: Die meisten Länder verweigerten ihm die Aufnahme – aus Angst vor den von ihm ausgehenden revolutionären Umtrieben. Frankreich und Norwegen wiesen ihn auf Druck der Sowjetunion wieder aus.
Von Stalin über den halben Erdball bis nach Mexiko getrieben, wurde schließlich die Stimme des scharfsinnigsten marxistischen Kritikers des Stalinismus mit einem Eispickel brutal zum Schweigen gebracht.
Widersprüche im Erbe Trotzkis
Trotzkis Analysen des Stalinismus bieten bis heute ein wichtiges Instrument, um das Scheitern des Sozialismus im 20. Jahrhundert und seine Entartung zu einem despotischen Totalitarismus zu verstehen. Sie blieben allerdings unabgeschlossen und widersprüchlich, was zu unterschiedlichen Interpretationen und den Spaltungen seiner Anhänger nach seinem Tod beitrug.
Für Trotzki war die Sowjetunion unter Stalin trotz aller Entartungen ein zu verteidigender »degenerierter Arbeiterstaat« mit verstaatlichten Produktionsmitteln, in dem eine neue, politische Revolution die stalinistische Bürokratie stürzen müsse. Gleichzeitig attestierte er dem Stalinismus, im internationalen Maßstab eine vollständig konterrevolutionäre Rolle zu spielen, wie das völlige Versagen der KPD im Kampf gegen Hitler und das Abwürgen der Spanischen Revolution in den späten 1930er Jahren durch die dortigen Kommunisten verdeutlicht hätten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten allerdings überall in Osteuropa Regime nach dem genauen Vorbild der Sowjetunion errichtet werden. Damit konnte nur eine der beiden Annahmen Trotzkis stimmen: Entweder war die Sowjetunion trotz aller Deformation noch ein fortschrittlicher und zu verteidigender Staat – dann spielte der Stalinismus aber keine konterrevolutionäre Rolle, weil er ja erfolgreich dieses Modell exportiert hatte. Oder die Theorie der konterrevolutionären Natur des Stalinismus war richtig – dann konnte es sich bei der Sowjetunion aber um keinen noch so deformierten Arbeiterstaat handeln, sondern musste es sich um eine neuartige, staatskapitalistische Gesellschaftsformation handeln, in der sich die Bürokratie zu einer herrschenden Klasse entwickelt hatte und nun nach weiteren Ländern ausgriff. Bald entstanden auch in China, Kuba und anderen Ländern Systeme nach dem Vorbild der UdSSR. Wenn sie auch sozialistisch waren, dann konnte der Sozialismus durch eine Rote Armee oder eine bäuerliche Guerilla erkämpft werden. Was wurde dann aber aus der zentralen Rolle der Arbeiterklasse, deren Selbstbefreiung für Trotzki den Charakter einer sozialistischen Revolution ausgemacht hatte?
Diese Frage führte zu zahlreichen Spaltungen der trotzkistischen Bewegung nach Trotzkis Tod. Sie dauern bis heute an, auch wenn ihr Ausgangspunkt – der Charakter der Sowjetunion und des sogenannten Realsozialismus – längst obsolet geworden ist.
Trotzki für das 21. Jahrhundert
Jahrzehntelang wurde Trotzkis Erbe vor allem in Kleinparteien, Zirkeln und Sekten bewahrt und häufig in dogmatisch-abschreckender Form präsentiert. Außerhalb dieses Mikrokosmos trotzkistischer Gruppen werden seine Ideen kaum diskutiert. Während es heute etwa eine Vielzahl von Marx- oder Gramsci-Lesekreisen in Deutschland gibt, findet mit dem Werk Trotzkis kaum eine Auseinandersetzung statt – trotz der wunderbar klaren, oft brillanten und zugleich verständlichen Sprache, in der es geschrieben ist.
Dabei kann eine Linke des 21. Jahrhunderts viel von der Auseinandersetzung mit Trotzki lernen. Sei es über Transformationsstrategien für einen Übergang zum Sozialismus in unterentwickelten Ländern (Permanente Revolution), sei es über Strategien einer revolutionäre Realpolitik, um auch in nicht-revolutionären Zeiten Mehrheiten für kommunistische Politik zu gewinnen (Einheitsfront), oder sei es über die Ursachen der Deformation und des Scheiterns des Sozialismus im 20. Jahrhundert und den daraus zu ziehenden Lehren (Stalinismuskritik). Auch Trotzkis Internationalismus und seine rätedemokratische Perspektive haben nichts an Aktualität eingebüßt. Die Fruchtbarmachung dieses Erbes sollte man nicht den Trotzkisten überlassen. Sie sollte Aufgabe der gesamten Linken sein.
* Florian Wilde ist promovierter Historiker und arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Von 2012 bis 2014 war er Mitglied des Parteivorstands der LINKEN und ist seit vielen Jahren einer der Sprecher ihrer Historischen Kommission. Bei seinem Text handelt es sich um eine überarbeitete und stark erweiterte Fassung eines Artikels, der in der Zeitschrift »LINKS!« erschienen ist.
Weiterlesen: Zu weiteren Lektüre über das Leben Leo Trotzkis empfehlen wir zwei klassische Texte, nämlich die 1929 unter dem Titel »Mein Leben« erschienen Erinnerungen des russischen Revolutionärs sowie Isaac Deutschers dreibändige Biografie (»Der bewaffnete Prophet. 1879-1921«, »Der unbewaffnete Prophet. 1921-1929«, »Der verstoßene Prophet. 1929-1940«) aus den 1960er-Jahren.
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Isabel Loureiro (Rosa-Luxemburg-Stiftung São Paulo) spricht über Trotzki und seine Beziehung zu Rosa Luxemburg (ab 8:47 Min.):