Boris Kanzleiter, Direktor des Zentrums für internationalen Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin, spricht über die aktuelle Lage in Europa, den wachsenden Nationalismus und die politischen Horizonte der Stiftung
Von Verena Glass (Text und Fotos)
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung wurde 1990 als Institution politischer Bildung, Diskussionsforum für kritisches Denken und politische Alternativen sowie Forschungsstätte für eine progressive Gesellschaftsentwicklung von der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) – die 2007 in der LINKEN aufgegangen ist – gegründet und hat in den letzten 15 Jahren ihren Tätigkeitsbereich weit über die Grenzen Deutschlands hinaus ausgeweitet. Zur Zeit ist die Stiftung über ihre gut 20 Auslandsbüros in mehr als 80 Ländern weltweit tätig. Diese Aktivitäten werden vom Zentrum für internationalen Dialog (ZID) koordiniert.
Heute ist das ZID eine der wichtigsten Abteilungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mit der Aufgabe, die Tätigkeiten der einzelnen Auslandsbüros zusammenzuführen, hat ZID- Direktor Boris Kanzleiter einen Prozess der Reflektion und Diskussion vorangetrieben, um die Linke weltweit noch besser unterstützen und stärken zu können.
Boris Kanzleiter wuchs in einer Familie auf, in der die politische Debatte zur Tagesordnung gehörte, und war schon früh in linken Gruppen aktiv. Er studierte deutsche Literatur und Geschichte und entschied sich dann für den investigativen Journalismus. Zuerst war er in Berlin tätig, dann in Mexiko und im ehemaligen Jugoslawien. Dort berichtete er über einen der blutigsten Kriege der Jahrhundertwende. Auch wegen seiner Balkan-Erfahrung wurde Kanzleiter 2009 mit der Gründung des Auslandsbüros für diese Region in Belgrad beauftragt, wo er bis zu seiner Nominierung als ZID-Direktor im Jahr 2016 arbeitete.
Die Linken in aller Welt zu verstehen und deren Vernetzung auf Augenhöhe mitzubetreiben, sei keine leichte Aufgabe in Zeiten, in denen sich die Krisen in allen Bereichen des Lebens ausbreiten, meint Kanzleiter. Angefangen in Europa, wo es eine steigende Tendenz zum Konservativismus und verschiedenen rechten Strömungen gebe.
“Bei den Bundestagswahlen im September wird zum Beispiel die AfD (Alternative für Deutschland), eine Partei der extremen Rechten, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die 5-Prozent-Hürde überschreiten und ins Parlament einziehen. In Ungarn und Polen wachsen Fremdenhass, Rassismus und Rechtsnationalismus. All diese Faktoren kennzeichnen spielen auch beim Brexit-Prozess einen Rolle“. Die Verwurzelung von antidemokratischem Gedankengut in Teilen der Gesellschaft, so Kanzleiter, werde durch neoliberale Austeritätsmaßnahmen der EU befördert, die die Eurokrise verschlimmerten, den Autoritarismus verstärkten und die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffneten. Folglich erschienen neokonservative Lösungsansätze für viele Wähler*innen als attraktiver.
Auch innerhalb der Linken herrsche Verwirrung. Es sei keine leichte Debatte, so Kanzleiter, da sind diejenigen, die die EU umgestalten wollen, um die Krise zu beenden, und jene, die den politischen Prozess renationalisieren wollen. „Das ist eine Diskussion, die noch vertieft werden muss. Wenn es beispielsweise in Deutschland gelänge, mehr linke Politiker*innen in died Parlamente zu bringen, gäbe es eine Chance zur Umgestaltung. Aber auch das Erstarken der Linken in der Region, wie den Aufstieg von Podemos in Spanien, die Syriza-Regierung in Griechenland und die linke Koalitionsregierung in Portugal, dürfen wir nicht außer acht lassen. In den letzten Monaten gab es auch politische Erfolge bei den Wahlen in Frankreich und England, mit der Stärkung progressiver Kandidaten wie Jean-Luc Mélenchon und Jeremy Corbyn“.
Die Kritik von rechts und links an der EU legt eine Frage nahe: Wie soll mit der nationalen Souveränität und den unterschiedlichen nationalen Strömungen umgegangen werden? Laut Kanzleiter vertritt die RLS eine klare internationalistische Linie, „was uns dem fremdenfeindlichen Nationalismus diametral entgegenstellt, sowohl jenem, der den Brexit herbeigeführt hat, als auch dem, der momentan in Polen herrscht.“
„Es gibt zwei sehr unterschiedliche Ansätze zur Souveränität: einen der Rechten, der sehr rassistisch und gegen individuelle Freiheiten ist, sehr patriarchal und prokapitalistisch. Auf der anderen Seite gibt es Widerstand gegen antidemokratische Prozesse in der EU, ein starkes Bedürfnis nach mehr Sozialpolitik, wie zum Beispiel die sozialen Bewegungen in Griechenland, Spanien und Portugal gezeigt haben. Die europäische Austeritätspolitik hat starke Einschränkungen der Sozialpolitik erzwungen, und diese Widerstände sind wichtig, auch die gegen die Förderung großer transnationaler Unternehmen.“
Globale Soziale Rechte: ein zeitgemäßes Synonym für demokratischen Sozialismus
Ein Konzept des ZID für die Arbeit der Auslandsbüros der RLS sind die Globalen Sozialen Rechte. Dabei handelt es sich um den Ausbau der sozialen und demokratischen Rechte für alle, wie gesunde Ernährung, qualitativ gute Bildung, Gesundheitsvorsorge für alle, Freiheit der Presse, der Gewerkschaften. Nur so können wir die Demokratie erhalten und ausbauen. Die Globalen Sozialen Rechte sind ein zeitgemäßes Synonym für demokratischen Sozialismus.
Kanzleiter zufolge unterstützt die Stiftung soziale Bewegungen, Initiativen und Organisationen, die sich für die Interessen bestimmter Gruppen einsetzen, wie die der Arbeiterinnen und Arbeiter, Frauen, Indigenen, Obdachlose, Bewohner*innen der Armenviertel usw. „Das wichtigste ist, dass die sozialen Rechte im Mittelpunkt stehen und dass diese durch die Gesetzgebung und Regierungsinstitutionen gestärkt werden. Dabei dürfen wir die existierenden Instrumente, wie internationale Vereinbarungen, wie beispielsweise die der Vereinten Nationen oder der Internationalen Arbeitsorganisation, nicht außer Acht lassen. Wir können uns auf diese Vereinbarungen stützen, aber sie funktionieren nur, wenn es soziale Mobilisierung gibt. Insofern ist es auch wichtig, dafür zu kämpfen, dass der Staat diese Rechte garantiert.“
Die Stiftung hat mehrere strategische Aufgabenbereiche, so Kanzleiter: mit akademischen Methoden die Politik analysieren, die politische Bildung fördern und Gruppen unterstützen, die sich für den Kampf um Rechte einsetzten, und schließlich Partnerschaften mit Akteuren der Linken aufbauen. „Wir unterstützen Parteien nicht direkt, aber sehr wohl soziale Bewegungen und linksorientierte Träger von politischer Bildung, die manchmal auch mit Parteien zusammenarbeiten. Wir ermutigen den Dialog zwischen Akteuren der Linken. Es gibt viele progressive politische und ideologische Richtungen und unsere Funktion ist es, den Austausch zu stärken. Wir wollen eine Plattform für die Begegnung unterschiedlicher Strömungen bieten, auch weil es immer noch viele Uneinigkeit zwischen Linken gibt.”
Die Herausforderung beim Vermitteln zwischen den Linken ist manchmal fast so komplex wie solche Regionen zu erreichen, die von Konflikten zerrüttet sind. „In Syrien zum Beispiel sind wir daran interessiert, mit Kräften zusammen zu arbeiten, die sich für Friedensprozesse einsetzen. Das kann durch unser Büro in Beirut ermöglicht werden, das den Kontakt zu syrischen Akteuren herstellen könnte. Auch in der Türkei ist unsere Arbeit schwierig, aber wichtig, denn es gibt eine starke Beziehung zwischen der Türkei und Deutschland. Da könnte man fragen: Wenn die Stiftung vom Staat finanziert wird, gibt es Interessenskonflikte?
Auch wenn wir uns über öffentliche Gelder finanzieren, haben wir das Mandat, die Politik der deutschen Regierung kritisch zu hinterfragen. Zum Beispiel hat Deutschland ein Abkommen mit der Türkei, das unter anderem die Zusammenarbeit von Sicherheitskräften beider Länder bei dem Vorgehen gegen Flüchtlinge beabsichtigt, das von der RLS kritisch gesehen wird. Auch das Spardiktat der Bundesregierung gegenüber Griechenland lehnen wir ab. Das ist unsere Funktion und unser Mandat. Und: Als Stiftung, die der deutschen Linkspartei nahesteht, haben wir natürlich eine sehr enge Beziehung zur größten Oppositionsfraktion im Bundestag“.
Übersetzung: Svea Franz