Ein Text der großen Historikerin der deutschen Arbeiterbewegung, die vor zwei Tagen in Berlin gestorben ist
Von Helga Grebing*, Frankfurter Hefte
Am 5. März 1871 wurde Rosa Luxemburg als fünftes und letztes Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Zamosc im Südosten Polens, damals ein Teil des zaristischen Russland, geboren. Seit ihrem zweiten Lebensjahr lebte sie mit ihrer Familie in Warschau. Hier wuchs sie im Milieu des aufgeklärten und assimilierten Judentums auf.
Ihre Erziehung war an den europäischen bildungsbürgerlichen Idealen orientiert und vom Kosmopolitismus der osteuropäischen jüdischen Intelligenz geprägt. Zeitlebens von anfälliger Gesundheit war sie durch ein Hüftleiden seit Kindheit leicht gehbehindert.
Mit knapp 19 Jahren wurde die junge Frau, die in jüdischen revolutionären Zirkeln tätig war, ins Exil nach Zürich gezwungen. Sie studierte Staatswissenschaften und schloss das Studium 1897 mit der Promotion ab. Selbst bezeichnete sie sich als Polin mit russischem Pass, bekämpfte aber die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen unter den Sozialdemokraten und ebenso die jüdischen-sozialistischen und zionistischen Organisationen in Polen und Russland. Ihr Ideal wurde die gleichberechtigte sozialistische Völkergemeinschaft ohne Nationalismus und Chauvinismus.
Im April 1898 verlagerte Rosa Luxemburg ihr Wirkungsfeld nach Berlin und trat in die SPD ein. Ihr langjähriger Partner Leo Jogisches blieb in der Schweiz. Kein anderer als der Parteivorsitzende August Bebel war sogleich fasziniert von der kleinen 27-jährigen Frau mit den großen leuchtenden Augen, von ihrer Ausstrahlungskraft, ihrer Streitfähigkeit, aber auch ihrer Sensibilität und Mitleidensfähigkeit. Auch später, als beide oft die Klingen kreuzten, wollte er »das Frauenzimmer in der Partei nicht missen«. Bereits auf dem Parteitag 1898 in Stuttgart begann sie ihre Position als Wortführerin eines revolutionären Sozialismus und eines konsequenten proletarischen Internationalismus in der westwie osteuropäischen Arbeiterbewegung aufzubauen.
Ein »Hineinwachsen in den Sozialismus« oder sozialreformerische Kompromisse mit dem bürgerlichen Staat gab es für Rosa Luxemburg nicht. Sie hielt an der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat auf revolutionärem Wege als Voraussetzung für die Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus fest. An der Spitze der Revolution sollte die Partei stehen, aber nicht eine, wie die Lenins, mit einem zentralistischen Ordnungssystem und terroristischen Instrumenten, sondern eine offene Partei, die die humanistisch-libertären Elemente des Sozialismus lebendig hielt. Hierauf bezog sich ihr viel zitiertes und meist falsch verstandenes Wort über die Freiheit des Andersdenkenden; damit war nicht die Freiheit in der bürgerlichen Demokratie gemeint, sondern die in der neuen, der sozialistischen Demokratie.
Die russische Revolution von 1905 bestärkte sie in ihren Auffassungen: Nun wurde für sie der Massenstreik »die Bewegungsweise der proletarischen Massen«, und jeder Streik war ein »Hammerschlag« der Revolution. Sie war überzeugt von der spontan sich äußernden schöpferischen Kraft der proletarischen Massen, die während des revolutionären Kampfes auch die Formen der sozialistischen Zukunft finden würden. Spontanität wurde ihr Schlüsselwort.
Spätestens seit 1912 war sie in der SPD, abgesehen von einigen politischen oder persönlichen Freunden, isoliert; im Gegensatz dazu gewann sie auf der internationalen europäischen Ebene an Einfluss durch ihren Kampf gegen den drohenden Krieg, der für sie den »Absturz in die Barbarei« bedeutete. Die Annäherung großer Teile des internationalen, nicht etwa nur des deutschen Proletariats an den jeweiligen nationalen Staat nannte sie »ein Unglück für die Menschheit«.
Im Krieg befand sie sich seit 1915 fast ununterbrochen eingesperrt im Gefängnis. Ihre Perspektive verengte sich, ihre Realitätswahrnehmung wurde eingeschränkt. Nach der Rückkehr ins revolutionäre Berlin im November 1918 wirkte sie unsicher: Sie wollte aus dem Spartakus-Bund, der ein Teil der USPD war, nicht eine neue Partei entstehen lassen, und als dies doch geschah, sollte die Partei nicht kommunistisch, sondern sozialistisch heißen; sie lehnte die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung nicht ab; sie zögerte mit ihrer Unterstützung des Januar-Aufstandes. Aber gleichzeitig wurde ihre Sprache in der Roten Fahne gegenüber der Sozialdemokratie, besonders gegen Ebert und Scheidemann, aggressiver, fast hasserfüllt.
Nun sprach sie doch von der Notwendigkeit der Klassendiktatur und hielt die Rätedemokratie für deren denkbare Form. Aber sie sah nicht, dass ihre Position nur von einer Minderheit des Proletariats mitgetragen wurde, dass die Massen, auf deren revolutionäre Spontaneität sie gesetzt hatte, ihr nicht folgten, sie erkannte nicht, dass die Konterevolution schon marschierte. Von deren Gefolgsleuten wurde sie am 15. Januar 1919 auf die brutalste Weise, den Nazi-Terror vorgreifend, ermordet. Sie war noch nicht einmal 48 Jahre alt.
Wie viele Sozialisten, und nicht nur diese, war und bin ich voller Respekt vor ihrem persönlichen Mut, ihrem unverwüstlichen Tatendrang und ihrer breiten und tiefen Intellektualität. Ihr Verhältnis zum jüdischen Erbe war zwiespältig: Sie war eine jüdische Sozialistin und nicht eine sozialistische Jüdin. Für das Ghetto habe sie, so schrieb sie einmal, »keinen Sonderwinkel im Herzen (…) ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause; wo es Wolken, Vögel und Menschentränen gibt«. Den Internationalismus, der vielen Linken bis heute so leicht über die Lippen kommt, den hat sie gelebt. Eine stalinistische Kommunistin wäre sie nie geworden. Dazu war sie zu tief in der mit der conditio humana verwobenen sozialistischen Ideenwelt verankert. Deshalb wird sie Vorbild bleiben.
Foto: Willy-Brandt-Stiftung
*Helga Grebing (* 27. Februar 1930; † 25. September 2017) war Historikerin, Mitglied der Historischen Kommission der SPD und Publizistin