Neue Akteure, neue Debatten?

Auf welche Weise soll Druck auf konservative Regierungen und Parlamente ausgeübt werden? Wie kann ein Generalstreik einberufen werden, wenn nur kämpferische Aktivist*innen mitmachen und die Basis sich den Appellen der Führung gegenüber taub stellt?
29/03/2017
por
Verena Glass

Verschiedene linke Organisationen diskutieren, wie Widerstand geleistet werden kann

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Neue und alte Akteure auf der Straße: nicht immer einer Meinung, aber verbündet in der Verteidigung gemeinsamer Rechte  (Foto: Rovena Rosa/Agencia Brasil)

Von Verena Glass, Brasilicum

Gegenstand der vorliegenden Analyse ist die politische Positionierung der sozialen Bewegungen in Brasilien im Zeitraum von Januar 2016 bis Januar 2017. Im Blickpunkt stehen Bewegungen, die eine nationale Reichweite haben. Zwei Perioden werden dabei unterschieden: die vor dem Impeachment von Präsidentin Dilma Rousseff – eine Zeit verzweifelten Kampfes gegen deren Sturz; und die Periode nach Einführung der neuen Regierungskoalition als Folge des parlamentarischen Putsches – eine Phase regelrechten Kopfzerbrechens für die sozialen Bewegungen auf der Suche nach einer Zielrichtung für Widerstand und Kampf gegen die neu konsolidierte Machtposition der politischen Rechten.

Berlin, 21.4., 18.30 Uhr: Soziale Kämpfe in schwierigen Zeiten

Seit der Machtübernahme der Regierung Temer durch ein umstrittenes Amtsenthebungsverfahren ist in Brasilien die Lage für zivilgesellschaftliche Akteure deutlich schwieriger geworden. Die neoliberale Sparpolitik der amtierenden Regierung, die soziale Errungenschaften der letzten Jahrzehnte kassiert, verstößt gegen Menschenrechte und internationale Verpflichtungen, die Brasilien eingegangen ist. Wer Großprojekte kritisiert oder gegen soziale Missstände und Rechtsverletzungen protestiert, wird kriminalisiert und von neuen rechten Bewegungen angegriffen. Wie gehen die sozialen Bewegungen und Organisationen mit der reaktionären Offensive um? Wie verteidigen sie die hart erkämpften sozialen Fortschritte, welche die Regierung nun in Frage stellt oder gar demontiert?

In die Defensive gedrängt sind nicht nur brasilianische Umwelt- und Menschenrechtsaktivist/innen: Weltweit gehen Regierungen – unabhängig vom Regierungstyp – so massiv gegen zivilgesellschaftliche Akteure vor wie seit 25 Jahren nicht mehr. Wie können wir als politisch Aktive demokratische Räume für zivilgesellschaftliches Engagement stärken? Wie können wir Partner/innen und andere Organisationen von Deutschland aus unterstützen?

Die Veranstaltung ist der Auftakt für die KoBra-Frühjahrstagung „Trotz alledem – 25 Jahre KoBra“ vom 21.-22. April 2017. Im Rahmen der Tagung feiert KoBra ihr 25-jähriges Bestehen.

 

Bereits 2015 war es in den urbanen Zentren zu einer Spaltung der Positionierung innerhalb der großen nationalen Bewegungen (Landlosenbewegung MST und andere Mitglieder der Via Campesina, Zentraler Verband der Arbeiter CUT und andere Gewerkschaftsverbände, Bewegung obdachloser Arbeiter*innen MTST, Studierendenbewegungen wie UNE und UBES, etc.) gekommen. Ein Teil der Organisationen, allen voran die MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) in Zusammenarbeit mit der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) bildete die Frente Brasil Popular („Brasilianische Volksfront“ )[1]. Aus dem anderen Teil unter Führung des MTST (Bewegung der Obdachlosen Arbeiter – Movimento dos Trabalhadores Sem Teto) mit Unterstützung der Partei Sozialismus und Freiheit PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) formierte sich die Frente Povo sem Medo (Front „Volk ohne Furcht“)[2]. Weitere Organisationen, vorwiegend aus dem Umfeld der Kommunistischen Partei Brasiliens PcdoB, traten beiden Fronten bei.

Beide Fronten gingen auf die Straßen, um gegen das Impeachment von Dilma Rousseff zu protestieren. Während die Frente Brasil Popular sich jedoch stärker an den Figuren der Ex-Präsident*innen Lula da Silva und Dilma Rousseff und deren Verteidigung anlehnte, nahm die Frente Povo sem Medo eine kritischere Haltung zur PT-Regierung, ihrer Wirtschaftsprojekte und Austeritätsmaßnahmen ein.

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Frente Brasil Popular und Frente Povo Sem Medo protestieren gegen den Putsch in 2016 (Foto: Rovena Rosa/Agencia Brasil)

Nach dem parlamentarischen Coup vom Mai 2016 drohte die Rücknahme einer ganzen Reihe von sozialen Maßnahmen und Programmen. Gleichzeitig bemühte sich die politische Rechte verstärkt um die Konsolidierung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik und um die Beseitigung Lulas als politische Führungspersönlichkeit. Demgegenüber fanden beide Fronten unter der Losung „Temer raus“ und „Direktwahlen sofort“ (Fora Temer / Eleições Diretas Já) zusammen. Dabei näherte sich die Frente Brasil Popular zunehmend den politischen Positionen Lulas an. Ihr strategischer Horizont umfasste Forderungen nach einer demokratischen, volksgewandten und politischen Reform, sowie einer neuen verfassungsgebenden Versammlung und Verteidigung der Staatsunternehmen, Staatsbanken und der für die nationale Souveränität strategisch wichtigen Naturressourcen wie Boden, Erdöl, elektrische Energie, Erze, Wasser und Biodiversität.

Demgegenüber positionierte sich die Frente Povo sem Medo allgemeiner gegen die konservative Offensive, gegen rechtsgerichtete Auswege aus der Krise und Austeritätspolitiken. Sie setzte sich für die Demokratisierung des politischen Systems, der Justiz und der Kommunikationsmedien, sowie für die Durchführung von Strukturreformen im Steuerwesen sowie im Grund und Boden in Stadt und Land ein. Zwar forderten beide Fronten lautstark eine Vereinigung der Linken, die über gemeinsame Demonstrationen auf den Straßen hinausgeht, doch blieben sie in dieser Hinsicht wenig erfolgreich.

Woran liegt die Schwierigkeit der Linken, sich auf ein Ziel für den Widerstand und den Kampf gegen die Rechten zu einigen? Zum einen an der unterschiedlichen Interpretation des Prozesses, der zum parlamentarischen Coup führte. Zum anderen aber auch daran, dass sich die klassischen sozialen Bewegungen von der Bevölkerung, ja ihrer eigenen Basis zunehmend entfernt haben. So hat sich die Landlosenbewegung MST in den Jahren der PT-Regierungen, unter Dilma Rousseff, intern verstärkt Fragen nach ihrer fortschreitenden Entfernung von und der latenten Kommunikationsunfähigkeit mit der Arbeiterklasse gestellt. Wie können die Massen für Themen von nationaler Wichtigkeit sensibilisiert werden? Auf welche Weise soll Druck auf konservative Regierungen und Parlamente ausgeübt werden? Wie kann ein Generalstreik einberufen werden, wenn nur kämpferische Aktivist*innen mitmachen und die Basis sich den Appellen der Führung gegenüber taub stellt?

Aus Sicht der MST stellt sich als weiteres Problem: das Fehlen einer soliden Plattform, eines politischen Horizonts, der es erlaubt, über die Wirklichkeit zu debattieren. Wie mit dem Agrobusiness umgehen? Wie eine Diskussion über ein nationales Projekt führen? Wie soll sich der Staat organisieren? Wie mit der Tatsache umgehen, dass es sich die Bewegungen nach der Regierungsübernahme durch die PT bequem gemacht haben und Forderungen nach verbesserten öffentlichen Politiken vernachlässigt wurden?

Ein anderes Beispiel: Die Bewegung Obdachloser Arbeitnehmer MTST konzentrierte ihre wohnungspolitische Mobilisierung auf Regierungsprogramme wie das Sozialwohnungsprogramm Minha Casa Minha Vida (Mein Haus, Mein Leben). Damit gab die Bevölkerung ihren Glauben an den Kampf für weitergehende Errungenschaften auf, so dass dem Aufrufen zu Demonstrationen für die Verteidigung der Arbeitnehmer*innenrechte nur ein geringes Echo zuteil wird. Mit anderen Worten: Mitten in einer Krise, die die ärmeren Schichten frontal trifft, mobilisieren am ehesten Losungen wie „Arbeitsstelle frei“ oder Sonderangebote vom Supermarkt. Wer den Arbeitsplatz oder gar die Wohnung verliert, den lässt die Forderung „Temer raus“ kalt, dem bleibt es verwehrt, die Zusammenhänge herzustellen. Daher hält es die Bewegung MTST für notwendig, die Reartikulation der Basis an ihren konkreten Bedürfnissen und an Wesentlichkeiten für die Bevölkerung auszurichten.

Andererseits vertritt diese Bewegung auch die Auffassung, dass die Linken noch nicht reif genug sind, um ein neues Nationales Projekt und eine Neuorganisierung des Staates zu entwerfen und entsprechend vorzuschlagen. Bei der laufenden Debatte geht es um die Frage, ob der Ausweg in der Gründung einer neuen Partei für die allgemeinen Wahlen von 2018 oder aber in der Schaffung einer großen Koalition linksgerichteter Parteien liegen wird. In der Diskussion steht allerdings auch die Frage, ob überhaupt ein demokratischer Wahlprozess stattfinden wird. Diese Punkte sind ebenso wichtig wie die Arbeit an der Basis. Doch hierüber steht Anfang 2017 eine klar definierte Einschätzung immer noch aus.

Eine andere Politik

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Junge SchülerInnen der besetzten Schulen: mehr Autonomie in den Organisationen (Foto: Rovena Rosa/Agencia Brasil)

Zwar nimmt die Debatte über die institutionelle Macht – einschließlich der Parteienkoalitionen und Wahlstrategien für 2018 – unter den großen Organisationen der sozialen Bewegungen in Brasilien eindeutig die zentrale Stellung ein, doch am Rande und außerhalb der klassischen sozialen Bewegungen haben gesellschaftliche Gruppierungen Überlegungen angestellt und Zielrichtungen vorgeschlagen, die durchaus Beachtung verdienen:

Bereits 2015 machte eine autonome Jugendbewegung von Schülerinnen und Schülern mit Besetzungen von Schulgebäuden als Protest gegen die Rückschritte in der Bildungspolitik verschiedener Bundesstaaten von sich reden. In der zweiten Hälfte 2016 trat diese erneut verstärkt in Erscheinung und übernahm eine wichtige Rolle in den Aktionen und Straßendemonstrationen gegen die Verfassungsänderungsvorlage Nr. 55 (PEC 55), die eine Deckelung der öffentlichen Ausgaben für die nächsten 20 Jahre vorsah und der im Dezember 2016 vom Kongress zustimmt wurde. Viel mehr als andere Bewegungen, waren es die Schüler*innen, die zum Protest auf den Straßen waren. Sicher mangelt es dieser Jugendbewegung an Institutionalisierung, so dass ihr volatiler Charakter einer längerfristigen Strategie im Wege steht. Nichtsdestotrotz spielt sie eine Schlüsselrolle.

Eine weitere Form der Organisation ist in den traditionellen Territorien und Gemeinschaften in Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Bedrohungen der eigenen Lebensweisen zu beobachten. Innerhalb der ländlichen Gemeinschaften und traditionellen Völker, u.a. Kleinbäuer*innen, Indigene, Quilombolas, Flussanwohner*innen, Fischer*innen, erstarken Bewegungen und autonome Prozesse in Situation einer wachsenden Skepsis gegenüber staatlicher Politik.

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Der indigene Sprecher Raoni Metuktire protestiert gegen den Staudamm Belo Monte während der Rio+20-Konferenz (Foto: Verena Glass)

Diese Skepsis gegenüber der Regierung entwickelte sich weit vor dem parlamentarischen Putsch, als Reaktion auf die Verantwortungslosigkeit mit der die PT-Regierungen, insbesondere unter Dilma Rousseff, Territorial- und Umweltfragen behandelten. So schlagen Überlegungen wie Selbstverteidigung der Territorien oder Reorganisierung des Gemeinschaftlichen als Kraftquelle für den Widerstand, Rückkehr zu den Wurzeln und den Vorfahren bei der Konstruktion der eigenen Lebensweise, verschiedene Formen der Einverleibung neuer Elemente des Guten Lebens und eine zunehmend rebellische Haltung gegenüber institutionellen Bestimmungen neuer Formen der Organisation des Lebens vor, die das politische Verständnis der traditionellen Linken herausfordern.

Zumal sich diese gemeinschaftlichen Bewegungen und Widerstandsgruppen aus kulturellen Gründen nicht immer als „links“ selbstdefinieren, auch wenn sie die Linken auffordern, Verständnis für ihren Widerstand aufzubringen und sich ihren Kämpfen anzuschließen.

Interessanterweise sind inzwischen bestimmte Aktions- und Kampfformen der Indigenen zur Referenz für anarchistische Stadtbewegungen, die Bewegung der Afrobrasilianer*innen (so die Bewegung „Reaja ou serás morto/a“: Wehr Dich, sonst wirst Du getötet“) oder die Frauenbewegung geworden. Zu solchen indigenen Referenzbewegungen zählen u.a. die Munduruku im Bundesstaat Pará, die ihr Territorium gegen den Bau von Wasserkraftwerken am Tapajós Fluss verteidigen, und die Ka‘apor im Bundesstaat Maranhão mit ihrer organisierten Selbstverteidigung gegen die Angriffe von Holzunternehmen.

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Munduruku-Frauen protestieren in der Hauptstadt Brasília (Foto: Ruy Sposati)

In widrigen Zeiten unter der Führung rechter Regierungen ist die Reflexion über neue Wege zur Verringerung der Abhängigkeit vom Staat möglicherweise noch weit entfernt davon, ein einschlägiges Thema für die sozialen Bewegungen zu werden, so fixiert sind letztere auf Debatten zu Macht und Staat. Doch genau in diese Richtung laufen interne Überlegungen etwa der Bewegung MTST. Demnach könnte die ungünstige Konjunktur die Möglichkeit neuer Wege für Projektentwürfe eröffnen. Zwar hält die Bewegung daran fest, auf die Frontinitiativen und die Aufrechterhaltung der Kämpfe um öffentliche Politiken zu setzen, um den Staat zur Einhaltung und Sicherstellung der Verfassungsrechte der Bevölkerung zu bewegen. Dennoch arbeitet sie nach wie vor an der Erschließung neuer Wege für autonome Initiativen zur Realisierung und Befriedigung der Bedürfnisse der Basis, darunter Einkommen, Pflege und Sozialgefüge.

Noch gibt es unter den verschiedenen sozialen Bewegungen Brasiliens Dialogschwierigkeiten, Misstrauen, offene Wunden und divergierende Lesarten. Dennoch herrscht derzeit eine allgemeine Erwartung der Schaffung eines auf Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Respekt vor Vielfalt und Rechten basierenden linken Paradigmas, aus dem sich neue Alternativen entwickeln können. Möglicherweise ist die Konsensfindung in diesem Zusammenhang nicht zwingend, so lange die Bedingungen für eine Vielfalt an komplementären Konstruktion einer neuen Linken in Brasilien zugelassen werden.

Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Gilberto Calcagnotto

[1]  Zur Frente Brasil Popular gehören: Central Única dos Trabalhadores (CUT), Central dos Trabalhadores e Trabalhadoras do Brasil (CTB), Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST), Via campesina, Movimento dos Pequenos Agricultores (MPA), Movimento das Mulheres Camponesas (MMC), Movimento dos Atingidos por Barragens (MAB), Movimento dos Atingidos por Mineração (MAM), Movimento de Cultura Popular (MCP), Federação Única dos Petroleiros (FUP), CONEN, União Nacional dos Estudantes (UNE), Levante Popular da Juventude, Fórum Nacional pela Democratização da Comunicação (FNDC), Consulta Popular, Marcha Mundial das Mulheres, Rede de Médicas/os Populares, Associação de Juizes pela Democracia, RENAP, SENGE-Rio, Sindicato de Professores, Metalúrgicos do RS, Pastorais Sociais, Central de Movimentos Populares (CMP). Ferner Parlamentsmitglieder und Führungspersönlichkeiten mehrerer Parteien und Parteiströmungen, darunter Partido dos Trabalhadores (PT), Partido Comunista do Brasil (PcdoB), Partido Socialista Brasileiro (PSB) und Partido Democratico Trabalhista (PDT).

[2]  Zur Frente Povo sem Medo gehören folgende soziale Bewegungen: Central Única dos Trabalhadores (CUT), Central dos Trabalhadores e Trabalhadoras do Brasil (CTB), Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST), Via campesina, Movimento dos Pequenos Agricultores (MPA), Movimento das Mulheres Camponesas (MMC), Movimento dos Atingidos por Barragens (MAB), Movimento dos Atingidos por Mineração (MAM), Movimento de Cultura Popular (MCP), Federação Única dos Petroleiros (FUP), CONEN, União Nacional dos Estudantes (UNE), Levante Popular da Juventude, Fórum Nacional pela Democratização da Comunicação (FNDC), Consulta Popular, Marcha Mundial das Mulheres, Rede de Médicas/os Populares, Associação de Juizes pela Democracia, RENAP, SENGE-Rio, Sindicato de Professores, Metalúrgicos do RS, Pastorais Sociais und die Central de Movimentos Populares (CMP). Zusätzlich beteiligten sich Parlamentarier und führende Persönlichkeiten verschiedener Parteien und politischer Strömungen, darunter Partido dos Trabalhadores (PT), Partido Comunista do Brasil (PcdoB), Partido Socialista Brasileiro (PSB) und Partido Democratico Trabalhista (PDT).