Eine Recherche von NDR, SWR und Süddeutscher Zeitung sorgt für neuen Wirbel um die Vorwürfe gegen Volkswagen in Brasilien. Während der zivil-militärischen Diktatur in Brasilien (1964 bis 1985) ermöglichte der deutsche Multi politische Verfolgung, Festnahmen und Folterungen der eigenen Arbeiter
Von Laura Burzywoda
Sebastião Neto, Gabriel Dayoub und Milena Fonseca sitzen dicht gedrängt vor einem der Computer im Büro des gewerkschaftsnahen Forschungsinstituts IIEP (Intercâmbio, Informações, Estudos e Pesquisas – „Austausch, Informationen, Studien und Forschung“) in São Paulo. Endlich haben sie im hektischen Büroalltag eine freie Minute gefunden. Schnell wird noch ein Glas Wein ausgeschenkt, dann geht es los. Lúcio Bellentani, enger Freund und Mitstreiter der drei, taucht auf dem Bildschirm auf und erzählt von seinen traumatischen Erfahrungen im Folterzentrum DOPS.
1972 wurde Bellentani (Foto) festgenommen – und zwar an seinem Arbeitsplatz, im VW-Werk in São Bernardo do Campo, einer Nachbarstadt von São Paulo. Im Anschluss erlebt er die schlimmste Zeit seines Lebens und muss in der Haft grausame Folter ertragen. VW macht er dafür mitverantwortlich. In der Fernsehdokumentation „Komplizen? – VW und die brasilianische Militärdiktatur“ berichtet er über die Leiden, die ihm während der Militärdiktatur widerfahren sind. Ausgestrahlt wurde die Reportage erstmals am Montag im ARD, doch auch die portugiesische Version, die die drei Aktivisten gespannt verfolgten, war bereits am gleichen Tag im Internet verfügbar.
Die portugiesische Version der SZ-Reportage – exklusiv bei uns!
Im Büro des IIEP war das Interesse und auch die Erwartungen an den deutschen Dokumentarfilm groß. Aktivist*innen und Ex-Mitarbeiter versuchen seit Jahren, den ehemaligen Arbeitgeber VW für die Zusammenarbeit mit dem Militärregime zur Verantwortung zu ziehen. Neto, Dayoub und Fonseca sind Teil der Gruppe, die im September 2015 die Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo dazu aufforderte, Ermittlungen gegen den Konzern einzuleiten.
VW soll sich in der Zeit der zivil-militärischen Diktatur in Brasilien (1964-85) an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig gemacht haben. Das deutsche Unternehmen überwachte die politischen Aktivitäten seiner Arbeiter und schickte Informationen zu oppositionellen Angestellten an die Sicherheitspolizei. So ermöglichte das Unternehmen politische Verfolgungen, Festnahmen und Folter der eigenen Arbeiter.
Kritik an der Militärdiktatur wischte der damalige Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG, Rudolf Leidig, im Jahr 1974 mit rassistischen Argumenten weg: »Die Tatsache, dass hier in Europa gelegentlich Kritik gegenüber dem [brasilianischen] System laut wird, beruht sicherlich darauf, dass man hier nicht die nötige Einsicht und Kenntnis über das Land besitzt. (…) Der Brasilianer besitzt eine andere Mentalität als der Deutsche und Europäer. Er nennt eine glückliche Mentalität sein Eigen (…). Er ist nicht neidisch und mit seinem Los zufrieden«.
Nun kommt noch einmal neuer Schwung in die Ermittlungen. NDR, SWR und SZ präsentierten die Ergebnisse einer Recherche, die sich mit der Kollaboration des Unternehmens mit der Militärdiktatur befasst. Die Fernseh-, Audio- und Zeitungsbeiträge sorgten für große Resonanz in vielen deutschen und brasilianischen Medien.
Was Bellentani in der Dokumentation berichtet, hören die drei vor dem Monitor nicht zum ersten Mal. Dieser hat seine Geschichte schon unzählige Mal erzählt, auch wenn es ihm bis heute schwer fällt, über dieses dunkle Kapitel seiner Vergangenheit zu reden. Er tut dies nur in der Hoffnung, dass Volkswagen die Schuld eingesteht und seine Fehler anerkennt.
Seine Anfänge nahm alles mit der Arbeit der Nationalen Wahrheitskommission, die 2012 von der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) eingerichtet wurde. Eine Arbeitsgruppe der Kommission hatte sich intensiv mit Verbrechen gegen Arbeiter*innen beschäftigt. Sie kam zum Ergebnis, dass mindestens 70 Unternehmen mit dem Militärregime kollaboriert hatten. 114 Arbeiterinnen und Arbeiter seien in den Jahren der Diktatur ums Leben gekommen.
Für mehr Details reichte es allerdings nicht – die unterbesetzte Kommission gab schon im Dezember 2014 ihren Abschlussbericht ab. Dieser konnte nur einen ersten Einblick davon geben, was sich in den Jahren der Diktatur tatsächlich abgespielt haben könnte. Die Dauer von zwei Jahren, die die Kommission zur Anstellung von Nachforschungen zur Verfügung hatte, war zu knapp, um wirklich in die Tiefe gehen zu können. Es blieben also viele offene Fragen.
Aus diesem Grund gründeten sich parallel zahlreiche weitere regionale Wahrheitskommissionen. In São Paulo, dem wirtschaftlichen und industriellen Zentrum Brasiliens, befasste sich die bundesstaatliche Kommission „Rubens Paiva“ und die städtische Kommission „Vladimir Herzog“ intensiv mit der Rolle der Unternehmen. Letztere organisierte bereits im Juli 2012 die erste Anhörung zu den Vorwürfen gegen VW do Brasil. Hier erzählte Lúcio Bellentani erstmals öffentlich von seiner Festnahme und den Konsequenzen.
Nach dem Abschluss der Arbeit der Nationalen Wahrheitskommission gründete sich dann das „Arbeiterforum für Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparation“, um die Nachforschungen zur Verantwortung von Unternehmen weiterzuführen. Das IIEP steht als verwaltende Institution hinter dem Forum.
Kommentar von Boris Herrmann (SZ): Im Augenblick
Seit knapp zwei Jahren sammelt der zuständige Staatsanwalt Pedro Machado nun weitere Nachweise, die Aufschluss über den vollen Ausmaß der Kollaboration geben können. Anfang 2017 nahm die Staatsanwaltschaft zur Unterstützung den renommierten Politikwissenschaftler Guaracy Mingardi unter Vertrag. Auf Grundlage der eingereichten Unterlagen, Zeugenaussagen und dem Ergebnis der Arbeit des Forschers soll in Kürze darüber entschieden werden, ob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Volkswagen erhebt.
VW reagiert derweil widersprüchlich auf die Vorwürfe. Dem Mutterkonzern in Wolfsburg ist es offenbar daran gelegen, Bereitschaft zur Aufklärung nach Außen zu vermitteln. Zunächst beauftragte er den eigenen Chefhistoriker Manfred Grieger damit, Untersuchungen anzustellen, nach dessen überraschendem Abgang Ende 2016 nahm Volkswagen dann den Historiker Christopher Kopper von der Universität Bielefeld unter Vertrag.
Den Betroffenen vor Ort ist das jedoch nicht genug. Für Sebastião Neto steht fest, dass das Unternehmen mit der Zeit spielt und versucht, sie an der Nase herum zu führen. Die Veröffentlichung der neuen Erkenntnisse in den deutschen Medien wecken in ihm die Hoffnung, dass nun etwas ins Rollen kommt.
Doch bisher hält sich das Unternehmen mit konkreten Reaktionen zurück. „Vorschnelle Schlüsse und Entscheidungen“ sollen laut VW-Pressesprecher Hans-Gerd Bode vermieden werden. Dabei ist selbst Christopher Kopper zu einem deutlichen Ergebnis gekommen. Im Interview mit dem Team von NDR, SWR und SZ sagt er, dass es „eine regelmäßige Zusammenarbeit zwischen dem Werkschutz von VW do Brasil und den Polizeiorganen des Regimes“ gegeben habe. „Sie haben Festnahmen zugelassen“, bestätigt Kopper. Er ist der Meinung, dass VW sich entschuldigen und sich um die Vereinbarung von Entschädigungszahlungen bemühen solle.
Der Wolfsburger Multi übt sich jedoch weiterhin in Schweigen. In einer Stellungnahme zu den neuen Erkenntnissen bat VW noch am Montag um Verständnis dafür „dass wir zuerst den Abschlussbericht und die Ergebnisse darin abwarten möchten, bevor wir diese im Detail kommentieren und uns über adäquate Maßnahmen verständigen“. Dass dieser Bericht allerdings bereits vorliegt, wird nicht erwähnt.
Christopher Kopper bestätigte gegenüber der Tageszeitung Estado de São Paulo, das 125-seitige Gutachten bei der Unternehmensleitung eingereicht zu haben. Volkswagen will die Ergebnisse veröffentlichen – wann, ist allerdings noch unklar. Der Historiker schätzt, dass aufgrund der Kollaboration von VW mit der Militärdiktatur sieben bis zehn Arbeiter verhaftet und verurteilt wurden, mindestens 100 weitere seien wegen Teilnahme an Streiks und Demonstrationen entlassen worden.
Die Betroffenen in São Paulo kämpfen gegen die Zeit. Doch die neuen Ergebnisse und die große Aufmerksamkeit könnten den Druck auf VW erhöhen und die Entwicklungen vorantreiben. Lúcio Bellentani hofft weiterhin auf ein Stück Gerechtigkeit. Er unterstreicht immer wieder, dass es ihm nicht um Vergeltung oder gar individuelle finanzielle Entschädigung gehe, sondern darum, Anerkennung zu erlangen und seine Würde wiederherzustellen. Aber eine Entschuldigung scheint für VW wohl noch zu viel verlangt.
Fotos: Verena Glass