Von Fundación Sol*, Santiago de Chile
Auf den ersten Blick scheint in Chile alles beim Alten zu sein: In der Stichwahl um die Präsidentschaft stehen sich die Vertreter des konservativen und des Mitte-links-Lagers gegenüber – diesmal Expräsident Sebastián Piñera und Alejandro Guillier. Rund die Hälfte der Wahlberechtigten wird am 17. Dezember wieder zu Hause bleiben. Und doch geht mit der zweiten Amtszeit der Sozialistin Michelle Bachelet (2014–2018) eine Ära zu Ende: Im politischen Koordinatensystem hat sich mit dem Linksbündnis Frente Amplio eine neue Kraft etabliert, die zusammen mit der Bewegung für ein staatliches Rentensystem das Zeug dazu hat, die Risse im neoliberalen Fundament der chilenischen Gesellschaft zu vergrößern. Sollte Guillier den bisherigen Favoriten Piñera auf der Zielgeraden doch noch überholen, dürfte dies nicht zuletzt der linken Mobilisierung der letzten Jahre zuzuschreiben sein.
Bei der ersten Runde der chilenischen Präsidentschaftswahlen am 19. November erreichte der Kandidat der Mitte-rechts-Koalition Chile Vamos (Auf geht’s, Chile!), Expräsident Sebastián Piñera, mit 36,7 Prozent den ersten Platz, gefolgt vom Spitzenkandidaten der Regierungskoalition Nueva Mayoría (Neue Mehrheit), Alejandro Guillier (22,6 Prozent). Am überraschendsten war allerdings das gute Ergebnis der Frente Amplio (FA, Breite Front). Beatriz Sánchez, die Vertreterin des Anfang 2017 gegründeten Bündnisses aus zwölf überwiegend linken Parteien und Bewegungen, kam mit 20,3 Prozent der Stimmen auf Platz drei.
Ebenfalls anders als erwartet war das Wahlergebnis Piñeras eher bescheiden. Dabei hatten ihn die Umfragen wie den sicheren Sieger aussehen lassen und sagten einen Rechtsruck voraus. Im Wahlkampf hatte Piñera darauf gesetzt, die Politik der Mitte-links-Regierung als gescheitert darzustellen. Das rechte Lager behauptete, Chile stagniere und die vorsichtigen Reformen des Steuersystems, des Bildungswesens und der Arbeitsgesetzgebung unter der Sozialistin Michelle Bachelet müssten zurückgenommen werden.
Alejandro Guillier und die christdemokratische Kandidatin Carolina Goic hingegen sagten, sie wollten die Reformen weiterführen, verfeinern und deren Umsetzung verbessern. Beatriz Sánchez und andere LinkskandidatInnen versprachen, die Reformen deutlich zu vertiefen und das Profitdenken in der Politik zu bekämpfen.
Chile wird international wegen seines hohen Wirtschaftswachstums der letzten Jahrzehnte gepriesen – nach Angaben des IWF hat das Land heute mit durchschnittlich 24.588 US-$ das größte Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Lateinamerika. Zugleich gehört es zu den 20 Ländern der Welt, in denen das Einkommen am ungerechtesten verteilt ist – das reichste Prozent der chilenischen Bevölkerung konzentriert 33 Prozent des Einkommens auf sich. Ursachen dafür sind die niedrigen Löhne, die Kommerzialisierung der Bildung, des Gesundheitswesens und der Renten sowie die hohe Staatsverschuldung.
Man mag aus dem Wahlergebnis herauslesen, dass sich Chile überraschend dafür entschieden hat, sich als Gesellschaft weiterzuentwickeln, und damit eine Stärkung der Linken einhergeht. Doch voreilige Schlüsse verbieten sich. Zunächst zwingt die Zusammensetzung des ebenfalls am 19. November gewählten Parlaments den künftigen Präsidenten dazu, die nächsten vier Jahre mit einem fragmentierten Kongress zu regieren, in dem die zwei traditionellen politischen Bündnisse (Nueva Mayoría und Chile Vamos) nicht mehr dominieren. Die Rechte hat in beiden Kammern einen höheren Anteil der Sitze als zuvor: 46,5 statt 40,8 Prozent im Abgeordnetenhaus und 44,1 statt 42,1 Prozent im Senat. Auf der anderen Seite besteht eine große Vielfalt unter den Parteien und Bewegungen der FA – von der Liberalen Partei bis hin zu Bewegungen in der sozialistischen Tradition Salvador Allendes.
Verschiebungen im Parteienspektrum
Im Vorfeld der Wahlen waren wesentliche Veränderungen des Wahlsystems und der Finanzierung der Parteien durchgesetzt worden. So wurde das binominale System, das eine Aufteilung der Macht zwischen den zwei großen Koalitionen ermöglicht hatte, durch das D’Hondt-System ersetzt. Auch das Auslandswahlrecht spielte eine Rolle: In 100 verschiedenen Ländern gaben 39.137 chilenische Wahlberechtigte ihre Stimme ab. Dieser recht geringe Anteil könnte in der Stichwahl durchaus entscheidend sein.
Mit 53 Prozent erreichte die Wahlbeteiligung einen neuen Tiefpunkt. Seit 1989, als sie noch 87 Prozent betrug, ist sie kontinuierlich gesunken. Ein geringeres politisches Engagement lässt sich auch an den sinkenden Mitgliederzahlen von Gewerkschaften wie dem Dachverband Central Unitaria de Trabajadores (CUT) oder Studentenvereinigungen wie der Federación de Estudiantes de la Universidad de Chile (FECh) ablesen.
Bei den Parlamentswahlen vereinte die Mitte-links-Allianz Fuerza de la Mayoría (Die Kraft der Mehrheit) die größte Anzahl von Parteien, darunter die Kommunistische Partei (PC), die Partei für Demokratie (PPD), die Radikale Sozialdemokratische Partei (PRSD), die Sozialistische Partei (PS) sowie parteilose KandidatInnen. Die Christdemokratische Partei (PDC), die Breite Soziale Bewegung (Movimiento Amplio Social) und die Bürgerliche Linke (Izquierda Ciudadana) traten erstmals seit 1990 getrennt von der reformistischen Linken auf der Liste Convergencia Democrática an.
Die Spaltung der derzeit regierenden Nueva Mayoría (bis 2014, als die PC noch nicht dabei war: Concertación) hatte zur Folge, dass die Christdemokraten die schlechtesten Wahlergebnisse ihrer Geschichte erzielten. In den letzten 20 Jahren sank ihr Anteil im Abgeordnetenhaus von 31,7 auf ganze 9 Prozent, ihre Präsidentschaftskandidatin Carolina Goic kam sogar nur auf 5,9 Prozent.
Links von diesem Lager hat sich die Frente Amplio etabliert, ein wahlpolitisches Bündnis aus älteren Parteien – wie der über 30-jährigen Humanistischen Partei, der Ökologisch-Grünen Partei und der Gleichheitspartei, die beide seit fast zehn Jahren bestehen – sowie Parteien, die erst kürzlich gegründet wurden, wie die Demokratische Revolution (Revolución Democrática) oder die Liberale Partei.
Diese Koalition gewann einen Senatorensitz und 20 Abgeordnetensitze und versiebenfachte somit ihre bisherige Vertretung im Parlament. Ihr Programm enthält einige Forderungen der Studentenbewegung sowie das Ziel, das Rentensystem zu verbessern – das vom Bündnis für ein solidarisches staatliches Rentensystem CNT No+AFP (Nationale Koordination der ArbeiterInnen – Kein AFP mehr)1 und dem Verein der Hochschulbildungsschuldner vorangetrieben wird.
Das rechte Bündnis Chile Vamos verfehlte eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Auch innerhalb der Rechten ergibt sich nach der Wahl ein neues Kräfteverhältnis: Die AnhängerInnen des Diktators Augusto Pinochet, vereinigt in der Unabhängigen Demokratischen Union (Unión Demócrata Independiente, UDI), mussten im Vergleich zur letzten Wahl einen Stimmenverlust von 4,8 (von 24,2 auf 19,4) Prozent hinnehmen. Evópoli, eine neue Partei, die sich selbst als liberal bezeichnet, gewann sechs Abgeordnetensitze und stellt zwei Senatoren.
Schließlich erreichte der rechtsextreme Kandidat José Antonio Kast 7,9 Prozent der Stimmen. Er wird von Militärs im Ruhestand unterstützt und fordert Maßnahmen wie ein Gesetz zu verantwortlichem Waffenbesitz zur Bekämpfung der Kriminalität, ein militärisches Vorgehen gegen die indigenen Mapuche und die Rücknahme des erst kürzlich verabschiedeten Gesetzes zum Schwangerschaftsabbruch. Die Rechte, die mit zwei verschiedenen Kandidaten zur Präsidentschaftswahl antrat, legte insgesamt zu. So zahlte sich einerseits ihr Nichtangriffspakt aus sowie andererseits eine Absprache, die sich deutlich in der sofortigen bedingungslosen Unterstützung der Kandidatur Piñeras durch Kast für den zweiten Wahlgang zeigte.
Bei den Linken reichten die Stimmen für die FA nicht aus, um in die Stichwahl zu gelangen, ihr starkes Abschneiden führte jedoch zu einer Verbesserung der Aussichten auf einen Wahlsieg des Mitte-links-Kandidaten Alejandro Guillier. Die FA hatte deutlich gemacht, dass sie in jedem Fall in die Opposition gehen würde, unabhängig davon, welcher Präsidentschaftskandidat gewänne. Außerdem hatte sie erklärt, dass es in der Verantwortung des Kandidaten Guillier liege, die WählerInnen von einem Programm der strukturellen Veränderungen zu überzeugen, das auch einige zentrale Anliegen der FA – wie die Entkommerzialisierung der sozialen Rechte, etwa auf Gesundheit, Rente und Bildung, sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung – enthalte.
Nach außen hin ließ die FA ihren Mitgliedern und AnhängerInnen freie Hand bei der Wahl und versicherte gleichzeitig: «Es ist nicht egal, wer regieren wird» und: «Piñera steht für Rückschritt». Zwei Wochen vor der Stichwahl schlug sich Beatriz Sánchez offen auf die Seite Guilliers, weitere FA-PolitikerInnen folgten.
Unbehagen und Repräsentationskrise
Generell waren die chilenischen Präsidentschaftswahlen bisher von Unbehagen und Desillusionierung geprägt. Daran haben auch die weltweit beachteten Massendemonstrationen von SchülerInnen und Studierenden 2011 wenig ändern können. Hinzu kommt die öffentlichkeitswirksame Aufdeckung einiger Fälle von unrechtmäßiger Politikfinanzierung innerhalb der zwei Koalitionen, die das Land in den letzten Jahrzehnten regiert haben, darüber hinaus Korruptionsskandale bei Polizei und Militär sowie Preisabsprachen zwischen Unternehmen.
Bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten wird in der chilenischen Öffentlichkeit über das Unbehagen und den Vertrauensverlust gegenüber der Politik diskutiert. Im Juni 2017 feierte die Veröffentlichung des von dem Soziologen Tomás Moulian verfassten Buches «Chile actual. Anatomía de un mito» (Chile heute – Anatomie eines Mythos) sein 20-jähriges Jubiläum – vermutlich das letzte sozialwissenschaftliche Buch, das eine massive Verbreitung im Land fand.
Moulian spricht von der demokratischen Modernisierung als einem «eisernen Käfig», einer Ordnung, die sich durch den Diskurs eines drohenden Chaos – verkörpert in der historischen Erfahrung der Diktatur – aufrechterhalte. Die Verantwortung für einen möglichen demokratischen Bruch liege daher bei den organisierten sozialen Bewegungen, die sich in ihrer «voluntaristischen Politik» nicht dem Primat der Austerität, der Aufrechterhaltung der makroökonomischen Ordnung und der Machbarkeit der Forderungen unterordneten. Moulian konstatiert weiter, Demokratie werde in der herrschenden Lesart als Einhegung der Bevölkerung verstanden. Der Stillstand in der Gesetzgebung, in der viele aus der Pinochet-Diktatur vererbte Normen einfach weiterbestünden, verstärke dies.
Ein eindrücklicher Beleg hierfür waren die bis April 2017 vorgenommenen Neueinschreibungen in die politischen Parteien (refichaje), die zeigten, wie wenig sich die Bevölkerung an zentralen Institutionen des demokratischen Systems beteiligt. Danach erreichten die traditionellen Parteien wie die PDC, die PS, die PPD, die PRSD und die Nationale Erneuerung (Renovación Nacional, RN), die Partei von Piñera, nicht einmal mehr 40 Prozent ihrer früheren Zahl an Parteimitgliedern. Allein die Kommunistische Partei (PC) verzeichnete ein Plus von 7.491 Mitgliedern. Damit ist die PC, seit 2014 ein höchst disziplinierter Koalitionspartner Michelle Bachelets, die größte Partei Chiles und neben der rechten UDI die einzige, die mehr als 40.000 Mitglieder hat.
Wie das Wahlergebnis außerdem zeigte, verlieren die politischen Kräfte auf nationaler Ebene an Einfluss, denn ihre Basisarbeit bleibt vor allem auf die städtischen Gebiete beschränkt.
Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz?
Die Bezeichnungen für die vielfältigen Reformen der letzten 25 Jahre bewegten sich stets zwischen Neoliberalismus «mit menschlichem Antlitz» und eingeschränkter progressiver Reformismus (progresismo). Die Bachelet-Regierung wollte mit ihren begrenzten Reformen ab 2014 die soziale Ungleichheit durchaus abbauen. 2017 trat die FA als neue politische Kraft auf den Plan und forderte eine Vertiefung dieser Politik, um im Kontext der Modernisierung des Kapitalismus Umverteilungseffekte zu erzielen.
Sowohl das rechte Lager als auch die Regierungskoalition reagierten auf die Forderung nach der Umsetzung sozialer Rechte, indem sie den Weg für eine «Akkumulation durch Enteignung» (David Harvey) ebneten. So benutzt das Finanzkapital das chilenische Rentensystem, um durch die Aneignung des Arbeitnehmerbeitrags seine Gewinne zu erhöhen; gleichzeitig wird im System der höheren Bildung die Zukunft der Studierenden durch Verschuldung verpfändet; der Markt und private Institutionen werden gestärkt. Über postneoliberale Reformen sollen die Widersprüche eines gierigen Neoliberalismus, der zudem auf neue Integrationsräume für das Finanz- und Immobilienkapital setzt, entschärft werden.
Obwohl die letzten Veränderungen des Wahlsystems und der Parteienfinanzierung das Auftauchen neuer politischer Kräfte mit parlamentarischer Vertretung möglich gemacht haben, scheint die Verteilung der Parlamentssitze zu zeigen, dass ihr politischer Spielraum in der Legislative begrenzt ist. In diesem neuen Szenario trägt das Zusammenleben von alten Parteien und neuen, aufstrebenden Kräften durchaus zu einer größeren Stabilität des politischen Repräsentationssystems bei. Gleichzeitig lassen die vielfältigen Widersprüche, die dem «chilenischen Wunder» innewohnen, die Freiräume, die die sozialen Bewegungen nach und nach im aktuellen Herrschaftsmodell geschaffen haben, sowie die Stoßrichtung der letzten, neoliberalen Reformen die Zukunft als ungewiss erscheinen.
Finanzkapitalismus gegen das Volk
Hinsichtlich der Wirtschaft Chiles und der Lebensbedingungen seiner Bevölkerung lassen sich bis zu den Wahlen 2017 drei Etappen ausmachen: Im kurzen Zeitraum nach der Subprime-Krise und dem Erdbeben 2010 gab es zunächst ein starkes wirtschaftliches Wachstum (2011/12) mit einer Konjunkturschwäche ab dem zweiten Halbjahr 2013 (Ende der Amtszeit der Regierung Piñera) bis heute. In dieser Periode haben der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts und die Schaffung von Arbeitsplätzen an Dynamik eingebüßt, die Durchschnittsgehälter stagnierten und die Verschuldung der Haushalte nahm zu. Heute sind 11,3 Millionen Menschen über 18 Jahren verschuldet, also 80 Prozent der Bevölkerung dieser Altersgruppe. Im Zahlungsrückstand befinden sich 4,4 Millionen Personen.
Das rechte Lager attackiert hinsichtlich dieser Missstände die Regierung Bachelet und verweist auf das Misstrauen vonseiten der Unternehmerschaft aufgrund der wirtschaftlichen Reformen. Der exzessive Populismus der Regierung, so ihre Argumentation, bringe die Säulen, auf denen das Land aufgebaut ist, ins Wanken.
Der von der Rechten und den Unternehmern postulierte Zirkelschluss, die Ankündigung der Reformen führe zu einem niedrigeren Wachstum, niedriges Wachstum wiederum verhindere die Reformen, hängt mit einer zweiten, längeren Periode zusammen, die mit dem Militärputsch 1973 begann und bis heute andauert. In dieser Periode legte die Diktatur die Grundsteine, um einen historischen Prozess der beschleunigten Kommerzialisierung von entscheidenden produktiven und reproduktiven Bereichen der Gesellschaft einzuleiten.
Hierunter fallen die Privatisierung grundlegender Sozialleistungen (Bildung, Gesundheit, Renten), natürlicher Ressourcen, der Banken und ihrer Regulierung, der Verkauf von Staatsbetrieben zu Spottpreisen und die Bildung einer neuen Unternehmergeneration unter direktem Einfluss des Staates. Von zentraler Bedeutung war auch die Einschränkung gewerkschaftlicher Arbeit durch die Arbeitsgesetzgebung von 1979: Tarifverhandlungen durften nur auf betrieblicher Ebene stattfinden, Streiks, die die Wirtschaft lahmlegen, blieben verboten. Die Gewerkschaften wurden zersplittert und entpolitisiert.
Dieser lange Zyklus der Privatisierung und Kommerzialisierung ging mit einer zutiefst gegen das Volk gerichteten Ideologie einher – zur Bezwingung des unmittelbaren Feindes, der Regierung der Unidad Popular – und dem Versuch, durch das Verbot politischer Parteien, Gewerkschaften, sozialer und territorialer Organisationen Aktivitäten von unten zu unterbinden. Nach der Pinochet-Diktatur (1973–1990) wurden diese Tendenzen über weitere zwei Jahrzehnte durch die Mitte-links-Regierungen der Concertación noch vertieft.
Der Zeitraum von den 2000er Jahren bis heute bildet die dritte wirtschaftliche Periode: der Reifungsprozess nach der Asienkrise. In Chile stiegen zwischen 2003 und 2016 die öffentlichen Schulden jährlich real um 9,8 Prozent, während das BIP um 3,25 Prozent und die Reallöhne um 2,3 Prozent im Jahresdurchschnitt zulegten. Das chilenische Wirtschaftsmodell übt systematisch Druck auf die Reproduktionsbedingungen der Haushalte aus, die von der Arbeit leben. Die Hälfte der ArbeiterInnen verdient weniger als 546 Dollar netto monatlich, also maximal 30 Prozent mehr als den Mindestlohn.
Für ein öffentliches Rentensystem
Die beschriebenen Prozesse der Privatisierung, Kommerzialisierung und Entpolitisierung haben dazu geführt, dass diese Transformationen politisch nicht umkehrbar zu sein scheinen, was wiederum die Haushalte an ihre materiellen Grenzen bringt. Einer der wichtigsten Vorstöße, den soziale Organisationen dagegen unternommen haben, ist der Vereinigung CNT No+AFP zuzuschreiben: Sie präsentierte 2016 den Vorschlag, die private Rentenversicherung AFP zu ersetzen und in ein Umlageverfahren mit dreigliedriger Finanzierung (Staat/Unternehmer/ArbeiterIn) zu überführen. CNT No+AFP spielte in der öffentlichen Debatte eine große Rolle und rief zu zahlreichen Kundgebungen auf, darunter eine Demonstration mit mehr als einer Million Personen.
Das Agieren dieser Vereinigung innerhalb dieser kurzen Periode war durchaus bemerkenswert. Wenn man jedoch den langen Zeitraum seit 1973 betrachtet, in dem etliche Maßnahmen durchgesetzt wurden, die zu sozialer Ungleichheit führten, überrascht es, dass sich nicht schon viel früher eine organisierte Widerstandsbewegung gegen die wirtschaftlichen Transformationen bildete. Und dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass sich beim Geschäft mit den privaten Rentenfonds (AFPs) die eingebrachten Investitionen in weniger als vier Jahren amortisierten und in den vergangenen 20 Jahren einen jährlichen Durchschnittsgewinn von 26 Prozent abwarfen.
Die Kehrseite der Medaille: Der durchschnittliche Rentenbeitrag, den Mitglieder finanzieren können, beträgt gerade einmal 20 Prozent ihres Gehalts. Das heißt, die Hälfte der Versicherten kann nur eine Rente von weniger als 20 Prozent ihres letzten Gehalts erwarten. Betrug dieses beispielsweise 800 US-$, bekommen sie weniger als 160 US-$ Rente. Es ist bereits abzusehen, dass in den nächsten Jahren 99 Prozent der Renten unter dem Mindestlohn liegen werden.
Die Tatsache, dass die FA eine mögliche Unterstützung des Kandidaten der Regierungspartei an die Bedingung knüpfte, den Vorschlag der CNT No+AFP in sein Regierungsprogramm aufzunehmen, hat dem Thema abermals viel Aufmerksamkeit verschafft. Wer auch immer die Stichwahl gewinnt: In Zeiten prekärer materieller Bedingungen, hoher Konzentration von Reichtum und Macht sowie der Kommerzialisierung der täglichen Reproduktion des Lebens wird das Regieren schwieriger.
Der Kampf um die Renten scheint mittel- bis langfristig einer der wichtigsten zu werden. Das politische Unbehagen hängt direkt mit der Verwundbarkeit zusammen, die Millionen von Menschen im täglichen Leben erfahren. Die Stärkung der Autonomie der sozialen und politischen Kräfte, die sich in der CNT No+AFP versammeln, kann im aktuellen politischen Szenario der Polarisierung und Fragmentierung von großer Tragweite sein.
1 1980 stellte die Regierung Pinochet unter Federführung des damaligen Arbeitsministers José Piñera, Bruder des jetzigen Präsidentschaftskandidaten Sebastián Piñera, das umlagefinanzierte Rentensystem auf das Kapitaldeckungsverfahren um. Es wurden verschiedene private Rentenfonds gegründet, die sogenannten Administradoras de Fondos de Pensiones (AFPs).
Aus dem Spanischen von Lisa Buhl; Originalversion hier
*Chilenisches Forschungs- und Aktionszentrum, das Studien publiziert und Bildungsworkshops über die soziale Realität, speziell die Arbeitswelt, organisiert
Foto: Vlado Mirosevic Diputado