Im September 2015 erstattete das brasilianische Menschenrechtskollektiv „Memória, Verdade, Justiça e Reparação“ Anzeige gegen VW do Brasil bei der Staatsanwaltschaft von São Paulo
Início » »
VW und die brasilianische Diktatur Hand in Hand
12/11/2015
por
Christian Russau

Wolfsburg, VW Autowerk, Käfer

Anzeige gegen VW do Brasil

Von Christian Russau, Lateinamerika Nachrichten, November 2015

Am 22. September 2015 erstattete das brasilianische Menschenrechtskollektiv „Memória, Verdade, Justiça e Reparação“ („Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung“), das sich aus Betroffenen, Gewerkschafter*innen, sozialen Bewegungen und Menschenrechtsgruppen zusammensetzt, Anzeige gegen VW do Brasil bei der Staatsanwaltschaft von São Paulo. Das Kollektiv will mit dieser Anzeige den Staatsanwalt des Bundesstaats von São Paulo dazu bewegen, zivilrechtliche Ermittlungen einzuleiten, um die Verstrickung des Konzerns in die Repression der brasilianischen Militärdiktatur zu untersuchen und zu verfolgen. Die Anzeige stützt sich auf Aussagen Betroffener, die diese vor den Wahrheitskommissionen getätigt hatten, sowie auf mehrere in Archiven aufgetauchte Fundstücke, die die Kollaboration von VW mit den Repressionsorganen belegen.

Bei den Vorwürfen gegen VW do Brasil geht es vor allem um vier Tatbestände:

Mitarbeiter*innen von Volkswagen wurden in den „bleiernen Jahren“ Brasiliens, in denen die Repression der Militärdiktatur am brutalsten war, am Arbeitsplatz verhaftet, geschlagen und verprügelt. Dies geschah laut Betroffenenaussagen unter Aufsicht und Mitwirkung von VW-Sicherheitspersonal. Vom Betriebsgelände wurden die Betroffenen direkt ins Folterzentrum DOPS gebracht, wo sie oft mehrwöchige Folter erleiden mussten. Einer dieser Folterer war der berüchtigte und brutalste der brasilianischen Militärdiktatur, Sérgio Paranhos Fleury.

VW wird zudem vorgeworfen, schwarze Listen über Betriebsangestellte und Berichte über Mitarbeiter*innen an Repressionsorgane der Militärdiktatur übergeben und als oppositionell geltende Angestellte entlassen zu haben. Zu den von Mitarbeiter*innen von Volkswagen in den 1970er Jahren Ausspionierten zählte auch der damalige Gewerkschafter und spätere Präsident Luiz Inácio Lula da Silva.

Die Anzeige fordert zudem eine Klärung der Vorwürfe, Volkswagen habe – so wie andere multinationale Konzerne in Brasilien – das berüchtigte Folterzentrum OBAN unterstützt. Die Anzeige erwähnt die freiwillige Zurverfügungstellung von Fahrzeugen für das OBAN, das ab 1970 unter dem Namen DOI-CODI in São Paulo operierte und in dem laut neuesten Erkenntnissen 66 Menschen ermordet wurden. 39 von diesen starben dort unter den entsetzlichen Qualen der Folter. Von weiteren 19 Menschen ist ihr letztes Lebenszeichen, dass sie verhaftet und ins DOI-CODI gebracht wurden. Seither gelten sie als verschwunden.

2013 wurden in den Archiven des vormaligen Geheimdienstes Brasilien SNI Dokumente gefunden, die die Zusammenarbeit von Industrie und Unternehmer*innen mit den brasilianischen Repressionsorganen nahelegten. Den als Verschlusssache deklarierten Dokumenten ist zu entnehmen, dass als Mittelsmänner für die Industrie das Forschungsinstitut Ipês und die Industriemobilisierungsgruppe GPMI des Industrieverbands FIESP in São Paulo fungierten. Die Industrie- und Unternehmervertreter – unter ihnen auch Volkswagen sowie die heutige VW-Tochter Scania – hätten zur Zeit der Militärdiktatur diese zwei Institutionen finanziell gefördert, damit sie gemeinsam mit der Obersten Heeresschule einen „militärisch-industriellen Komplex“ gegen den Widerstand aufbauten. Zudem gibt es Vorwürfe, VW do Brasil habe gegenüber dem GPMI mündliche Zusagen über Zahlungen geäußert. Solche finanzielle Unterstützung sei zudem bereits vor dem Militärputsch 1964 erfolgt, um die demokratisch gewählte Regierung von João Goulart zu stürzen, was am 1. April 1964 dann auch geschah.

 

Manchmal, wenn du in einer Menschenmenge bist, fühlst du dich allein”
Lúcio Bellentani über seine Verhaftung 1972 bei VW und die erlittene Folter

Während die Mainstream-Medien derzeit über den Dieselskandal von Volkswagen rauf und runter berichten, übersetzt LN die Zeugenaussage eines Werkzeugmachers von VW, der während der Diktatur von Médici inhaftiert und gefoltert wurde. Aussage von Lúcio Bellentani am 19. Juli 2012 vor der Munizipalen Wahrheitskommission „Vladimir Herzog“.

Lucio-bellentani-foto-Verena_Glass-e1445269603367
Lúcio Bellentani bei seiner Zeugenaussage.

„Mein vollständiger Name ist Lúcio Antonio Bellentani. Ich bin 68 Jahre alt. Ich war Mitglied der Brasilianischen Kommunistischen Partei. Ich trat im September 1964 in die Partei ein. Mein Vater kam zur Zeit der Diktatur von Getúlio Vargas ins Gefängnis, weil er auch Mitglied der Brasilianischen Kommunistischen Partei war. Er war damals auch städtischer Abgeordneter. In die Partei einzutreten, das war für mich Anlass, sehr stolz zu sein, da schon mein Vater an diesem Kampf teilgenommen hatte, in diesem Kampf aktiv war.

Zu jener Zeit arbeitete ich bei Volkswagen, in São Bernardo, und dort fing auch mein Aktivismus an. Wir begannen die Organisation der Parteibasis in der Fabrik von São Bernardo do Campo und dies hatte in der Partei ziemlich großen Widerhall. Wir waren dort sehr gut organisiert. 1970 beispielsweise half ich mit, da war ich einer der Organisatoren der Oppositionsgruppe gegen die Gewerkschaftsleitung von São Bernardo do Campo. Das war die erste Wahl, bei der Lula als Ersatzkandidat der Gewerkschaft antrat. Damals war er der letzte auf der Wahlliste und ich war Teil dieser Oppositionswahlgruppe.

1972 passierte das mit dem Gefängnis. 1972 wurde ich innerhalb des VW-Geländes verhaftet. Ich war am Arbeiten und es kamen da zwei Typen mit Maschinenpistole, die drückten sie mir in den Rücken, legten mir sofort Handschellen an. Das war so gegen 23 Uhr. Als ich dann in den Raum der Sicherheitsabteilung von Volkswagen kam, fing gleich die Folter an: ich habe gleich Prügel bekommen, musste Ohrfeigen und Faustschläge einstecken. Da wollten sie schon wissen, ob es bei Volkswagen noch wen gäbe. Damals bestand die Parteibasis bei Volkswagen aus ungefähr 250 Personen.

Sie brachten mich ins Gefängnis, ins [Folterzentrum] DOPS. An diesem Tag waren es nur so zwei Stunden Prügel, dann warfen sie mich in eine Zelle und erst am nächsten Tag holte mich die Mannschaft ab, es war die Truppe des Kommissars Delegado Acra. Am nächsten Tag übergaben sie mich der Truppe des Kommissars Delegado Fleury, der mich in einen riesigen Saal im dritten Stockwerk des DOPS setzte. Da war ein Schreibtisch und ein Stuhl in der Mitte, man setzte mich da hin, und der Fleury war so 15 Minuten lang total still, schaute mich an und ein halbes Dutzend von Folterern [standen] da hinter ihm. Dann sagte er auf einmal zu mir: ‘Hör zu, weißt Du, wer der Ober von Santa Ceia war? Und wenn Du es nicht weißt, dann wirst du es uns hier [trotzdem] sagen‘.

Ab da ging das richtig los, also, pau-de-arara (Folter an der Papageienschaukel, Anm.d. Übersetzers), auf meinem Kopf, an den Händen, an den Füßen zerbrachen sie einige dieser Rohrstöcke, ich verlor etliche Zähne. Das ging dann an die 45 Tage so weiter, weil, es war Folgendes: Sie wussten, dass die Basis der Partei innerhalb von Volkswagen groß war, aber während dieser 45 Tage waren dort nur der, der mich verraten hatte, und ich, und er kannte die Organisation nicht als ganze, weil wir uns in kleinen Gruppen organisierten, und ich, nur ich, kannte sie alle.

Nach 45 Tagen brachten sie dann den, der mich verraten hatte, in die Fabrik und er lief da lang und zeigte auf alle, die er kannte; selbst so erwischten sie nur zehn Personen. Nur zehn Personen wurden verraten, verhaftet und gefoltert.

Glücklicherweise schaffte ich es, die gleiche Aussagelinie vom ersten Moment bis zum Ende durchzuhalten und so blieb es dann dabei.

Zu diesem Zeitpunkt war die Sache so: Die companheiros, die am meisten gefoltert worden waren, die am meisten verfolgt worden waren, waren die, die in der Guerilla aktiv waren, in der Stadtguerilla, in der Guerilla von Araguaia, also die Leute aus dem bewaffneten Kampf. Die wurden am meisten gefoltert.

Nach vier Monaten im DOPS brachte man mich dann ins [Folterzentrum] OBAN. Ich kam da an, und der Capitão, der da war – ich weiß nicht wer, er war so ein dunkler Typ – kam zu mir, schaute mich an und löste [meine Fesseln]; er war wütend, weil – nach vier Monaten –, was soll man da von ‘nem Typen noch wollen? Da kann man mit ihm nichts mehr machen und all das, was sie schon zu Beginn haben konnten, das hatte nach vier Monaten keinen Wert mehr. Also schickten sie uns zurück ins DOPS.

Am Abend bevor sie mich ins Gefängnis bringen sollten, kamen sie zu mir in meine Zelle, um ein Uhr morgens, um mich zu holen, sie brachten mich in den dritten Stock. Da kam dann einer mit einer Seilrolle, einigen Maschinenpistolen, Handschellen und sagte: ‘Heute werden wir noch einen Schinken in Sapopemba haben‘ (Sapopemba ist ein Stadtteil im Südosten von São Paulo. Gemeint ist ‘Wir machen heute Hackfleisch aus Dir.‘, Anm.d. Übersetzers). Ich dachte: Ich glaub, das war‘s. Ich war der einzige da. Sie nahmen mich und wollten wissen, wo ein Junge wohnte, der bei Mercedes in São Bernardo do Campo arbeitete.

Damals, 1972, war da bei Mercedes eine einzige Brachfläche, da gab es nichts, da war nur Mercedes. Sie brachten mich da hin, die Hände mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt, legten das Seil um meinen Hals, knüpften und zogen die Schlinge zu, gingen um mich herum, zogen mich im Kreis über den Boden, und wollten wissen, wo das Haus des Jungen sei. Ich stand auf, da gaben sie eine Salve mit der Maschinenpistole ab, aber es waren keine Kugeln, sondern nur Platzpatronen. Dann steckten sie mich wieder in den Wagen, da kam dann einer und sagte: ‘Schau, die da hinten quatschen gerade. Nutz‘ deine Chance und lauf‘. Ich sagte: ‘Wenn Ihr mich töten wollt, ermordet mich hier drin in dem Wagen, wegrennen werde ich nicht.‘ Da legten sie mir erneut Handschellen an und brachten mich wieder ins DOPS.

Zu meiner Überraschung brachten sie mich am nächsten Tag ins Gefängnis Tiradentes, nachdem ich sechs Monate im DOPS gewesen war. Dort lernte ich Martinelli kennen, der mich dort in Empfang nahm, ich kam direkt in seine Zelle, er begrüßte mich und wir waren dort gemeinsam für eine Zeit. Ein Jahr lang wartete ich auf den Prozess, und als das Urteil fiel, da waren im gleichen Prozess Luiz Carlos Prestes und Anita Leocádia Prestes angeklagt, die uns damals unterstützt hatte, sie hatte sogar mal bei uns im Haus gewohnt. Es kam zum Urteil, aber wir alle wurden wegen mangelnder Beweise freigesprochen. Ich wurde freigelassen.

Ein Jahr später – ich wohnte zu dieser Zeit im Vale do Paraíba und arbeitete bei Erikson – da kam ein companheiro aus São Paulo zu mir nach Hause mit der Zeitung Folha de São Paulo in der Hand, in der stand, ich sei in Brasília zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Ich sagte: ‘Okay, ich weiß nicht so recht, ich werde mich nicht stellen, ich hau einfach irgendwohin ab.‘ Meine Anwältin aber, Dra. Rosa, die hier in der Wahrheitskommission sitzt, sie und Dr. Belizário waren meine Anwälte, und sie sagten: ‘Geh‘ und stell dich, denn da Du schon ein Jahr gesessen hast, kann es maximal 15, 20 Tage dauern.‘

Aber sie fanden bei dem Prozess heraus, bei der Berufung der Anklage, die mich verurteilt hatte – da gab es eine Empfehlung von Fleury –, die sagte, ich sei der einzige gewesen, der zu keinem Zeitpunkt mit der Repression zusammengearbeitet hätte. Also wurde ich verurteilt und blieb noch fast ein Jahr in Haft. Zehn Monate lang blieb ich dort; zwei Monate in Freiheit unter Auflagen. Sie entließen mich [die ganze Zeit] nicht in die Freiheit, ich ging zum Gefängnisrat und sie entließen mich einfach nicht, ich sollte da vermodern. Und der Name, unter dem ich dort geführt wurde, und den der Herr Martinelli mir gab, war ‚Tourist‘.

Ich wusste nicht einmal, warum ich da noch war, weil, ich war ja schon freigesprochen und hatte das Recht auf meine Freiheit und all das. Dieses Mädchen, das ist meine Tochter, hat im Gefängnis das Laufen gelernt, denn als ich verhaftet wurde, war sie drei Monate alt und meine Frau wurde am folgenden Tag auch verhaftet. Es gab sie und noch zwei weitere Brüder. Sie kamen einfach in mein Haus, nahmen meine Frau und ließen die Kinder alleine. Nachdem sie da einen ganzen Tag alleine waren, merkten die Nachbarn das und halfen ihnen. Meine Frau wurde nicht gefoltert, sie blieb zweieinhalb Tage in São Bernardo, dann wurde sie freigelassen.

Ich weiß von companheiros, die viel mehr gefoltert wurden als ich, viel mehr traumatisiert sind als ich. Folter, das ist sehr schwer zu erklären, weil es da zu einem gewissen Moment kommt, in dem der physische Schmerz Dich nicht mehr umhaut; sie können Dich schlagen, Elektroschocks ansetzen, sie können machen, was sie wollen, aber Du spürst es nicht mehr. Aber dann kommt noch die moralische Frage, die psychologische, das ist eine ganz harte Nummer, und die Leute sagen manchmal: ‘Ach, nein, ich bin da durch, aber heute geht es mir gut.‘ Das ist eine Lüge, weil manchmal, wenn Du in einem Fahrstuhl bist, manchmal, wenn Du in einer Menschenmenge bist, fühlst Du dich allein. Es gibt eine Reihe von Traumata, die wir haben, und wir können Therapien machen, können machen, was wir wollen, das ist schwer zu erklären: es ist schwer, es ist schmerzhaft. Und es gibt diese Ohnmacht, weil, man bleibt total ohne Macht. Der Zynismus, die Gemeinheit, das ist so was Fieses, dass es wirklich absolut notwendig ist, dass man diese Wahrheit in Erinnerung behält und all das aufarbeitet, damit unsere Jugend davon weiß, Kenntnis davon hat, dass die Freiheit oder die Pseudofreiheit, die sie heute hat, dass da viel Geschichte dahintersteckt.“

Übersetzung: Christian Russau

Fotos: wikipedia, Verena Glass