Drei Tage lang wurde in Buenos Aires über Arbeit, Gesundheitssouveränität, Feminismus, „Freihandel“, Gemeingüter und Klimagerechtigkeit diskutiert
Von Jürgen Vogt
„In Buenos Aires hat sich der globale Widerstand gezeigt und Gehör verschafft. Einmal mehr wurde deutlich, dass, wo immer die großen globalen Foren hingehen, sie der Widerstand der aufrechten Völker erwartet, die für ihre Rechte kämpfen,“ heißt es leicht pathetisch in der einstimmig angenommenen Abschlusserklärung des „Völkergipfels“, der vom 11. bis 13. Dezember in Buenos Aires tagte. Dass die zeit- und ortsgleich stattfindende Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) ohne Ergebnis und gemeinsame Abschlusserklärung endete, wurde mit Befriedigung wahrgenommen.
Drei Tage lang wurde am sozialwissenschaftlichen Fachbereich der Uni Buenos Aires unter dem Motto „Souveränität aufbauen“ über Arbeit, Gesundheitssouveränität, Feminismus, „Freihandel“, Gemeingüter und Klimagerechtigkeit diskutiert. „Der wichtigste Aspekt war, dass sich die zahlreiche Grupperungen und Bewegungen aus unterschiedlichen Kulturen zusammengefunden und sich über ihre Unterschiede austauschen und Gemeinsamkeiten erarbeiten konnten,“ resümierte Beverly Keene vom Organisationsbündnis „Fuera OMC“ (Raus mit der WTO).
Ähnlich sah das Isabelle Bourboulon von Attac-Frankreich – eine der rund 60 Personen, denen die argentinische Regierung die Einreise verweigern wollte. Attac sei in gewaltsame Auseinandersetzungen während des G20-Gipfels in Hamburg verwickelt gewesen, wurde ihr mitgeteilt. Erst nachdem die französische Botschaft interveniert hatte, wurde ihr die Einreise gestattet – anders als etwa der britisch-ecudorianischen Journalistin Sally Burch.
Was die sich verbal so weltoffen gebende Regierung von Mauricio Macri zu diesem einzigartig autoritären Vorgehen bewogen haben mag, wird wohl ihr Geheimnis bleiben – unter dem Strich bleibt der Nachgeschmack einer gründlich fehlgeschlagenen Generalprobe für den G20-Gipfel Anfang Dezember 2018.
Es seien schon reichlich Erfahrungen mit bi- oder multilateralen Abkommen vorhanden, sagte Bourboulon. „Statt von einem Freihandelsabkommen zum nächsten zu hecheln, sollten wir uns hinsetzen und bilanzieren: Was wurde zu Beginn versprochen und wie sind die Ergebnisse heute?“ Bereits damit lasse sich zeigen, dass es bei solchen Abkommen – die Attac-Veteranin Susan George spricht zu Recht von „Vampirverträgen“ – wenige Gewinner und viele Verlierer gibt.
Im Falle des gerade wieder einmal vertagten Abkommens zwischen der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur und der EU wäre nun auch noch Zeit zum Nachdecken. „Über dieses Abkommen redet in Europa kaum jemand, obwohl es einen Raum mit rund 800 Millionen EinwohnerInnen betrifft und nicht nur die französischen Landwirte,“ stellte die Attac-Aktivistin fest.
Arbeiterrechte im Fokus
Eine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte Veranstaltung beschäftigte sich mit den Auswirkungen von Vampirverträgen auf die Rechte der ArbeiterInnen. Damit traf die Debatte zugleich den aktuellen Nerv der politischen Ereignisse in Argentinien, wo die konservative Regierung Macri mehrere Gegenreformen umsetzen will, darunter auch die Änderung des Arbeitsrechts.
„Macri ist sofort auf die Freihandelsschiene aufgesprungen. Was er propagandistisch als Modifizierung verkauft, bedeutet in Wahrheit einen Abbau von Arbeiterrechten, die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, das Vereinfachen von Entlassungen und Lohnstopps,“ führte María Paula Lozano aus. Dabei erfinde die Regierung nichts Neues, sondern ahme lediglich nach, was in anderen Ländern bereits durchgesetzt worden sei, sagte die Generalsekretärin des Verbands der argentinischen Arbeitsrechtsanwälte.
Der Abbau von Arbeiterrechten sei aber nicht nur konservativen Regierungen vorbehalten, mahnte der brasilianische Ökonom Adhemar Mineiro. So habe in Brasilien bereits Präsidentin Dilma Rousseff nach ihrer Wiederwahl 2014 einen neoliberalen Kurswechsel hingelegt. Die Begründung sei jedoch weltweit überall die gleiche: Nur über die Flexibilisierung werde die Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangt und diese sei die Voraussetzung für das eigentliche Ziel einer Vollbeschäftigung. „Mit dieser Argumentation schieben sich die Staaten untereinander den schwarzen Peter zu,“ so der Ökonom vom RLS-Partner Brasilianisches Netzwerk für die Integration der Völker (Rebrip).
Zuvor hatte Florian Horn vom Brüsseler RLS-Büro darauf verwiesen, dass solche Arbeitsmarktreformen auch in Europa durchgeführt wurden – ausgehend von Deutschland mit Schröders Agenda 2010. Ein Merkmal solcher Liberalisierungen sei auch, dass sie stets in mehreren Schritten und nicht in einem großen umgesetzt würden und dass die lokalen Gewerkschaften oftmals mitzögen.
Darauf, dass Freihandelspolitiken nicht geschlechterneutral sind, wies Corina Rodríguez vom Development Alternatives with Women for a New Era (DAWN) hin. „Das Paradigma des Freihandels hat die ohnehin schon vorhandene Benachteiligung von arbeitenden Frauen weiter vorangetrieben,“ sagte Rodríguez und führte als Beispiel die Maquiladora-Industrie in den Freihandelszonen Mexikos an, in der Frauen unter anderem als billige Näherinnen ausgebeutet werden. „Der Staat verliert durch solche Zonen zugleich Steuereinnahmen, aus denen Programme für Gendergleichheit finanziert werden könnten,“ so Rodríguez.
Zentral sei, unter welchen Bedingungen produziert werde, argumentierte der Europaabgeordnete der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken, Helmut Scholz. Deshalb sei es problematisch, dass ausgerechnet die Entwicklungsländer darauf bestehen, dass die WTO sich nicht bei der Frage nach den Arbeitsbedingungen einmischen dürfe. Dagegen müssten gerade Freihandelsabkommen mit den Standards der Internationale Arbeitsorganisation ILO und auch den Umweltstandards anderer internationaler Organisationen nachgebessert werden.
Ob sie plötzlich im falschen Film säße, fragte denn auch die argentinische Rechtsanwältin Beatriz Rajland. Die zentrale Forderung des Gipfels sei doch, Raus mit der WTO und nicht, wie sollten dessen Regeln reformiert werden. „Es geht nicht gegen den Handel als solchen, sondern gegen die Kommerzialisierung unseres Lebens. Es geht dabei auch nicht um bessere Freihandelsabkommen, sondern um deren Abschaffung,“ bekräftigte die Aktivistin.
„Eins ist, was wir wollen oder ablehnen, das andere ist die Realität der herrschenden Verhältnisse,“ erwiderte der Pragmatiker Scholz. So werde das Abkommen zwischen dem Mercosur und der EU zwar von den Fraktionen der Linken und Grünen abgelehnt, „aber die stellen im Parlament nun mal nicht nicht die Mehrheit.“
Über Vampirverträge ging es auch beim Forum Menschenrechte und Freihandel von Brot für die Welt, Misereor und dem Berliner FDCL. Die Verhandlungen zwischen Mercosur und EU würden sich bereits über 20 Jahre hinziehen, sagte Adhemar Mineiro. „Sie stammen aus einer Zeit, als es noch nur um Fragen ging wie: wieviel Kilo Fleisch kann ich liefern, wieviel Autos muss ich dafür ins Land lassen?“ Heute seien nahezu alle so genannten Freihandelsabkommen nicht mit den internationalen Vereinbarungen über Menschenrechte, Umwelt- und Arbeitsbedingungen vereinbar. „Die Menschen in Europa sollten sich genau hinschauen, mit welchen Regierungen die EU gegenwärtig verhandelt.“
Buntes Finale
Zum Abschluss des Gegengipfels protestierten rund 10.000 Menschen gegen die WTO. Eine bunte Mischung aus nationalen und internationalen politischen und sozialen Grupperungen zog vom Kongressgebäude zum Obelisken. „Wir machen hier deutlich, dass die WTO sich über unsere Rechte hinwegsetzt und für den Tod von unzähligen KleinbäuerInnen auf der ganze Welt verantwortlich ist,“ sagte Luciana Ghiotto von Attac-Argentinien.
Ein riesiges Polizeiaufgebot veranstaltete nach Abschluss der friedlichen Kundgebung ein absurd anmutendes Schaufahren auf der Calle Corrientes, ein Vorgeschmack auf das rabiate Vorgehen gegen die Großproteste der darauffolgenden Tage.
Rund 1500 Menschen hätten den Gegengipfel besucht, schätzte Beverly Keene. Die Ablehnung der WTO als Quelle von Hunger, Vertreibung und Ausplünderung der Menschen und der Natur sei ein Grundtenor der Kritik in den Foren gewesen, wie auch der Mangel an demokratischen Strukturen bei den bestehenden weltweiten Institutionen, nicht nur bei der WTO. Die Suche nach demokratischen Alternativen sei aktueller denn je.
Fotos: Gerhard Dilger