Mein Vorschlag wäre, das Ding einzustampfen, ihm ein Begräbnis erster Klasse zu arrangieren, und dann einfach mal schauen, was aus der Masse kleinerer und mittelgroßer globaler Koordinierungszirkel und Initiativen heraussticht
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WSF? R.I.P., oder: „Was bedeutet es heute, Linke(r) zu sein?“
26/03/2018
por
Tadzio Müller

So long, old friend, Deine Zeit ist vorbei. Es ist Zeit für etwas Neues. Und für den Mut, etwas Neues zu erschaffen

Von Tadzio Müller, Rosalux-WSF-Blog

the end

Cheerio, miss Sophie

Zugegeben, Abgesänge auf das Weltsozialforum als Prozess sind wirklich nichts Neues: Same procedure as last year, miss Sophie? Same procedure as every year, James! Ähnlich, wie der Text zu UN-Klimagipfeln seit über 20 Jahren fast immer derselbe ist (‘Klimaschutz gescheitert, Klappe die x-te‘ – über die Ausnahme von Paris können wir gerne andernorts diskutieren), schreiben wir – also die schnell schrumpfende Zahl globaler Kommentator*innen, die sich noch mit dem WSF auseinandersetzen – über Weltsozialforen seit mindestens 2013, spätestens seit 2015 immer wieder dasselbe: weniger Leute, weniger Aufmerksamkeit, weniger Finanzierung, weniger Relevanz. Dann folgen ein paar argumentative Hilfskonstruktionen, die es uns erlauben, unser eigenes Interesse, unsere Reisekosten, unser organisatorisches Involvement zu begründen, was übrigens nicht bedeutet, dass die so gemachten Punkte keine Gültigkeit haben:

  • der Vorwurf der schrumpfenden globalen Relevanz der Foren wird oft mit einem stärkeren Fokus auf wachsende lokale/regionale/nationale Relevanz pariert, wie zum Beispiel in den starken Berichten von Niklas Franzen;

  • das Problem der schrumpfenden diskursiven Aufmerksamkeit für das Forum (trotz dieser wunderschönen Reportage) wird gelegentlich mit der Forderung gekontert, das Ganze doch wieder, wie zu Beginn des Forums, parallel zum World Economic Forum in Davos zu veranstalten;

  • das würde dann, so in Hintergrundgesprächen von finanzstarken Organisationen zu hören, dazu führen, dass wieder mehr Geld in den Prozess fließt, größere internationale Delegationen kommen könnten…

Und das gruseligste Argument habe ich selbst vorletztes Jahr, nach dem ersten Ersteweltforum in Montreal aufgeschrieben: Das WSF darf nicht sterben, weil es alternativlos ist, sprich, es braucht globale Koordinierung von Bewegungen, das WSF ist der einzige Ort, an dem sich Bewegungen über thematische Grenzen hinweg koordinieren, ergo muss das WSF weiterleben, und auch meine Arbeitgeberin sollte sich weiter aktiv daran beteiligen. Der Text hieß sogar „Es gibt keine Alternative“. Bald fang ich auch noch an, vom marktkonformen Sozialismus zu schwafeln, oder was? Im Ernst, wo kommen wir als Linke denn hin, wenn Alternativlosigkeit unser stärkstes Argument ist, eine Institution zu verteidigen, die einfach nicht liefert, was gebraucht wird?

Tabula Rasa anstatt wasserköpfiges WSF

Natürlich stimme ich Lorenz Gösta Beutin, dem neuen klima- und energiepolitischen Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und ausgewiesenes Mitglied des internationalistischen Flügels seiner Partei, zu, wenn er in einem sehr schönen Text schreibt, dass das WSF einer der Orte ist, wo wir als relativ privilegierte im globalen Norden mit „dem Leben der Anderen“ konfrontiert werden, und mit der Art und Weise, wie unser (wieder: relativer) Wohlstand das Resultat und die Bedingung der absoluten Armut vieler Menschen im globalen Süden ist. Aber die Frage ist doch die (und hier würde ich mir manchmal wünschen, dass wir in der Linken das durch und durch kapitalistische Konzept der Opportunitätskosten ein bisschen mehr mitdenken würden): Ist es noch rational, unter den gebenenen Bedingungen – d. h., unter dem Zeitdruck, den die ökologische und andere Krisen verursachen; und angesichts unserer äußerst knappen organisatorischen und finanziellen Ressourcen – ein WSF zu organisieren, bei dem die Investitionen ganz offensichtlich dem Gesetz abnehmender Grenzerträge unterliegen, sprich, bei dem immer weniger herumkommt?

Oder wäre es sinnvoller, Tabula Rasa zu machen, sich in den unsicheren, erschreckenden Raum einer globalen organisatorischen Leere zu begeben, und dann zu schauen, was in diesem Raum möglich ist? Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass die meisten großen sozialen Bewegungen, die sich seit dem Beginn der organischen Krise des neoliberalen Kapitalismus 2008ff. konstituiert haben, das WSF einfach nicht als ihren Ort ansehen, ihre Realität ist also schon eine ohne das WSF. Und denen geht es weder besser noch schlechter, als denen, die sich (wie z. B. die Klimagerechtigkeitsbewegung – oh, wait, das stimmt ja dieses Mal auch nicht mehr) hier auf dem WSF noch vernetzen.

Kurz: Mein Vorschlag wäre, das Ding einzustampfen, ihm ein Begräbnis erster Klasse zu arrangieren, und dann einfach mal schauen, was aus der Masse kleinerer und mittelgroßer globaler Koordinierungszirkel und Initiativen heraussticht.

Das wäre auch eine Art und Weise, den Internationalen Rat des WSF (eine Ansammlung großkopferter Linker, die zum Teil schon seit den 1970er Jahren miteinander Politik machen) endgültig auszudribbeln. Dieses vermutlich nutzloseste ZK In einer langen Geschichte nutzloser linker ZKs sitzt irgendwie oben auf dem WSF-Prozess, trifft aber eigentlich keine Entscheidungen, hat keine transparenten Zugangsregeln, und ist überhaupt ein totaler Wasserkopf. Ach ja: Weil der IC nichts entscheiden kann, könnte er nicht einmal eine Auflösungserklärung formulieren. As the Donald would say: SAD!

Es fällt auseinander, was auseinander gehört

Jetzt aber nochmal kurz zurückspulen: Was war es denn in den vergangenen paar Tagen, das bei mir – der, wie gesagt, schon seit Jahren den selben WSF-Kommentar schreibt, und am Ende immer wieder zum Schluss kommt, man müsse doch mit dem WSF weitermachen – diese Positionsänderung erzeugte? Es war nicht die latent begräbnisartige Atmosphäre, die von einem Event ausging, das es nicht einmal gebacken kriegt, ein Programm zu drucken, und das sich gelegentlich mehr wie eine Wahlveranstaltung für einen Ex-Präsidenten anfühlte, der wahrscheinlich nicht einmal zur Wahl antreten darf (Spoiler Alert: Lula!).

Es war die zufällige Gleichzeitigkeit zweier Events am Donnerstagabend, die wie nichts anderes die Tatsache verdeutlichen, dass das Bündnis zwischen progressiven wohlfahrtsstaatlichen Regierungsprojekten auf der einen und radikalen sozial-ökologischen, antirassistischen und feministischen Bewegungen auf der anderen Seite (nb: das ist natürlich eine vereinfachende Dichotomie, z. B. steht ja die Landlosenbewegung hierzulande, die MST, geschlossen Seit’ an Seit’ mit der PT von Lula und Dilma), das nicht nur die Pink Tide in Lateinamerika ausmachte, sondern im weiteren Sinne die Basis einer globalen antineoliberalen Linken darstellte, endgültig zerbrochen ist.

Two households, both alike in dignity, in fair Salvador, where we lay our scene, from ancient grudge break to new mutiny… Das Ganze hat fast schon Shakespeare’sches Drama: Einerseits soll in einem der Fussballstadien der Stadt am Donnerstagabend ein Riesenevent stattfinden, so eine Art Expräsident*innengala der mittlerweile darniederliegenden linken Regierungsprojekte Lateinamerikas der vergangenen Jahre. Lula würde da sein, klar, ist ja Wahlkampf; andere Namen wurden genannt: von Zelaya (Honduras) über Mujica (Uruguay), von Kirchner (Argentinien) zu Bachelet (Chile), aber am Ende kam doch nur Zelaya, um Lula zu unterstützen. Was nicht Nichts ist. Und dass Lula immer noch ein Stadium rocken kann, zeigt Göstas Beitrag zum Event: „Dann steht dieser alte Mann auf, der eben noch scheinbar apathisch auf den Boden gestarrt hat und beginnt zu reden. Und es ist wie eine Naturgewalt, er reißt die Menschen im Stadion mit, er erzählt eine Geschichte von sozialen Kämpfen, von Würde, er erzählt von persönlichen Rückschlägen, er erzählt von der Kraft der sozialen Bewegungen und der Hoffnung und der Notwendigkeit, das Erreichte zu verteidigen und darüber hinauszugehen. Er spricht über Schwarze, Indigenas, Landlose, Frauen.

Das ist ja alles schön und gut. Aber hat er darüber gesprochen, warum die meisten sozialen Bewegungen, mit Ausnahme der mittlerweile durchaus klientelistisch verbrämten MST, seine Nachfolgerin Dilma Rousseff nicht verteidigt haben, als sie einem institutionellen Putsch zum Opfer fiel? Ich nehme auch an, dass er ausgespart hat, dass die PT auch von der Macht vertrieben werden konnte – by the way: Dilma wurde von ihrem eigenen Vize abserviert – weil sie Bündnisse mit verschiedenen Kapitalfraktionen einging, wie z. B. dem Agrokapital, das hier dafür verantwortlich ist, dass reihenweise ‘Verteidiger*innen der Erde’ umgebracht werden. Dass Brasilien in Lateinamerika quasi als subimperiale Dépendance des imperalistischen Projekts der KP Chinas fungiert hat, und die neuen ‘offenen Adern’ Lateinamerikas zuerst nach Brasilien, und von dort aus nach China laufen?

Dass also ein ganz erheblicher Teil der sozial-ökologischen Konflikte, die in Lateinamerika (z. B. in Bolivien, um die Straße durch den TIPNIS Nationalpark) toben, auf Prozesse zurückzuführen sind, die in Brasilien zwar nicht ihren Ursprung haben, aber von dort aus in Lateinamerika umgesetzt werden? Ich will hier gar nicht in toto die Debatte um linke Regierungen in Lateinamerika aufmachen, ich will nur darauf verweisen, dass ein unkritisches ‘Weiter so’ zu diesen Projekten ein bisschen so ist wie das, was gerade in der deutschen Sozialdemokratie passiert.

Anyway, irgendwie auch egal: Zu dem Event kamen irgendwo zwischen zwei- und viertausend Leute. In ein Fußballstadion. Augenzeugenberichten zufolge sah es dort aus, wie bei Donald Trumps Inauguration. Das Ganze war schon auch ein Flop. Nicht, dass mich das freut, mir wäre eine weitere Lula-Präsidentschaft um ein Vielfaches lieber als ein Wahlsieg des Faschisten Jair Bolsonaro (der leider in den Umfragen an zweiter Stelle hinter Lula liegt). Aber es soll bitte niemand behaupten, hier käme noch etwas programmatisch Neues an den Start. Die Pink Tide und mit ihr die Hoffnungen, die sie vielen von uns Linken in der Welt gab, ist schon lange verebbt.

 

Sonnenfinsternis

Genau diese Ebbe, diese ‘Sonnenfinsternis’ (so der Titel eines neuen Buches über das Scheitern der Pink Tide) war das Thema eines gleichzeitig auf dem Unicampus stattfindenden Workshops, der wie das genaue Gegenstück zum inhaltlich müden Abfeiern eines in seinen über Umverteilung und Wohlfahtrstaat hinausgehenden Versprechen gescheiterten Projektes erschien. Dort trafen sich die Häuptlinge des links-ökologischen und bewegungsnäheren Flügels des WSF um 5 Vorträgen von Männern (!) zuzuhören, die früher mal Teil der linken Regierungsprojekte waren, oder ihnen zumindest solidarisch gegenüberstanden, und heute zu scharfen Kritikern geworden sind. Damit dieser ohnehin schon viel zu lange Text nicht noch weiter ausufert, und weil die Genossen (und dann später in der Diskussion auch Genossinnen) so gute One-Liner geliefert haben, schreibe ich jetzt hier einfach mal die besten Zitate aus diesem wirklich spannenden Event auf, das vielleicht verdient hätte, die Bühne im Stadium mit Lula zu teilen.

Emilio Taddei aus Argentinien beginnt: Der Kontext dieser Diskussion ist „ein enormer Anstieg der systemischen Gewalt“ in Lateinamerika, nicht zuletzt zu sehen im Mord an der brasilianischen Aktivistin Marielle Franco. Die Prämisse dieser neuen Phase des Neoliberalismus in Lateinamerika sei die „Liquidation des Universalismus“. Ein Satz, der für mich eine erschreckende Resonanz in manchen Debatten der deutschen Linken hat. Wer sagt nochmal, dass offene Grenzen für Alle eine utopische Forderung sind, wenn das doch in der heutigen Zeit die universalistische Forderung an sich sein muss?

Alejandro Bendaña aus Nicaragua, ein ehemaliger sandinistischer Guerrillero, fragt mit zitternden Händen: „Was ist passiert? Und warum zum Teufel ist es passiert?“ „Aus der Loyalität zum Projekt wurde eine Loyalität zur Macht“, sagt er über die ehemaligen Sandinist*innen, heute Ortegist*innen in Nicaragua. Aber noch wichtiger (an die Genossin Sammlungsbewegung): „Ihre Konzeption der Demokratie ist eine autoritäre.“

Pablo Solón, ehedem einflussreicher UN-Botschafter Boliviens, heute scharfer Kritiker der Regierung von Evo Morales, argumentiert, es habe zwar einen Bruch mit dem Neoliberalismus in Bezug auf öffentliche Dienstleistungen gegeben, aber nicht in Bezug auf a) den Produktivismus der Regierungen; und b) die Logik der Macht, welche er im Kern als autoritäre bezeichnet. Bei ihm ist es die Stimme, die zittert, wenn er davon spricht, wie ein Lokal einer indigenen Menschenrechtsorganisation von Mitgliedern einer größeren Gewerkschaft angegriffen und zerstört wurde (Lausitzer Braunkohleblockaden, ick hör Euch trapsen). Seine Frage am Ende: „Haben wir nach zehn Jahren ‘Progresimo’ in Lateinamerika stärkere oder schwächere soziale Bewegungen?“ Antwort: schwächere. Und wieder zittert seine Stimme.

Am Ende bringt José Correa Leite, ehedem bei der PT, das Ganze auf den Punkt, wenn er fragt: „Was bedeutet es heute, links zu sein?“, wenn die linke Regierung im Bündnis mit dem Agrokapital, den Evangelikalen und der Waffenlobby steckt? „Was ist das Projekt des Wandels, das wir im 21. Jahrhundert brauchen?“ Das sind für mich die Kernfragen, zu deren Beantwortung das WSF nicht mehr fähig ist.

Als zum Ende der Diskussion einer sagt, dass die linken Regierungen nicht gehalten haben, was sie versprachen, interveniert Elizabeth Peredo aus Bolivien und fasst das Problem zusammen: „Genosse“, erwidert sie, „die linken Regierungsprojekte hatten niemals ein einheitliches Versprechen.“ Die Fragen, die uns damals trennten, und heute noch trennen, seien immer noch dieselben:

  • Produktivismus vs. Antiproduktivismus;
  • Zentralismus vs. Horizontalismus;
  • Patriarchat vs. Feminismus.

Und ich würde noch hinzufügen: Nationalismus vs. Globalismus.

Es geht also um nichts weniger als die Frage, was es heute heißt, links zu sein. Und für diese Debatten ist das WSF offensichtlich nicht mehr der richtige Ort. Daher: So long, old friend, Deine Zeit ist vorbei. Es ist Zeit für etwas Neues. Und für den Mut, etwas Neues zu erschaffen. Aber dafür sind wir ja Linke: weil wir den Mut haben, etwas zu fordern, etwas zu schaffen, von dem wir jetzt noch nicht wissen, wie es aussehen wird (z. B. den demokratischen Sozialismus). Eines weiß ich aber schon: So wie dieses WSF wird es mit Sicherheit nicht aussehen.