Neben einer offiziellen Entschuldigung für die Komplizenschaft deutscher Behörden und Diplomaten mit dem Unrechtssystem Colonia Dignidad, die sicherlich auch berechtigte Forderungen nach Schadenersatz nach sich ziehen dürfte, bedarf es einer umfassenden juristischen und politischen Aufarbeitung der Verantwortlichkeiten.
Bundespräsident Joachim Gauck ist am Montag in Chile eingetroffen. Auch wenn die deutsche Botschaft in Santiago und das Bundespräsidialamt im Vorfeld betont haben, dass das Thema „Colonia Dignidad“ keine zentrale Rolle während des Staatsbesuchs einnehmen soll: Chilenische Menschenrechtsgruppen verbinden mit dem Besuch des vormaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes Hoffnungen, dass dieses schwarze Kapitel in den bilateralen Beziehungen endlich umfassend und ernsthaft aufgearbeitet wird.
Gemeinsam mit Präsident Gauck ist Regisseur Florian Gallenberger zu einer Vorpremiere seines Films „Colonia Dignidad“ angereist, der nach einigem Hin und Her im August anlaufen wird. Damit stehen erstmals auch in Chile die unrühmliche Rolle der bundesdeutschen Botschaft in Santiago und des Auswärtigen Amts in Bonn bezüglich der Menschenrechtsverbrechen in der Foltersekte auf der politischen Agenda.
Die 14 Quadratkilometer umfassende Colonia Dignidad wurde 1961 von dem Deutschen Paul Schäfer gegründet. Sie liegt rund 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago. 44 Jahre lang, von 1961 bis 2005, lebten bis zu 300 SiedlerInnen in der geschlossenen Welt der „Kolonie der Würde“ – vor allem Deutsche, zuletzt aber auch chilenische Kinder und Jugendliche.
Bald wurde ein straffes quasimilitärisches Regime mit Zwangsarbeit und religiöser Indoktrinierung errichtet. Schäfer selbst missbrauchte reihenweise Kinder und Jugendliche. Wem die Flucht gelang, für den war allzu oft die Botschaft Endstation – trotz frühzeitiger Informationen über das Treiben in diesem „Staat im Staate“ herrschte eine jahrzehntelange Komplizenschaft.
Deutsche Komplizenschaft
Nach dem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende 1970 verbündete sich die Colonia-Führungsriege mit rechtsextremen Kreisen. In den ersten Jahren der Pinochet-Diktatur (1973–90) installierte der chilenische Geheimdienst Dina auf dem weitläufigen Gelände eines seiner Folterzentren, wo vermutlich über hundert Regimegegner ermordet wurden. Auch handfeste Hinweise auf Waffenhandel, Giftgasproduktion und Geldwäsche gibt es im Zusammenhang mit der Foltersekte. Die Ermittlungen in Chile gehen schleppend voran – Verbündete in Justiz und Politik gibt es bis heute.
Schäfer wurde nach seiner Flucht 1997 und der Festnahme in Argentinien 2005 verurteilt, 2010 starb er in Haft. Ein Jahr darauf wurde sein Stellvertreter Hartmut Hopp wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt, er reiste jedoch aus und lebt seitdem in Krefeld. Erst vor wenigen Wochen beantragte die dortige Staatsanwaltschaft die Vollstreckung dieses Urteils.
Jahrzehntelang, selbst unter demokratischen Regierungen, hatte der chilenische Staat die Kolonie, als ein „deutsches“ Problem angesehen – umgekehrt waren die während der Pinochet-Jahre dort „Verschwundenen“ lange ein Tabu. Doch in den vergangenen Jahren hat sich Berlin bewegt. Seminare und eine Publikation wurden finanziert, und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier fand im April bemerkenswert selbstkritische Worte, als er die Akten der Jahre 1986 bis 1996 des Auswärtigen Amtes zum Thema „Colonia Dignidad“ freigab.
Achtung der Menschenrechte stand nicht so hoch im Kurs
Doch das ist nicht genug. Es geht um mehr als ein stillschweigendes Einverständnis zwischen konservativen Auslandsdeutschen und von der Bundesrepublik Deutschland entsandten Beamten, auch um mehr als das Fehlverhalten einzelner Diplomaten.
Steinmeier hat eingeräumt, dass damals „die Wahrung der Menschenrechte auf anderen Kontinenten […] nicht zentraler Gegenstand […] der deutschen Außenpolitik“ war. Ja, in den 1970er Jahren standen für die sozialliberale Koalition in Bonn Antikommunismus und gute Geschäftsbeziehungen höher im Kurs als die Achtung der Menschenrechte in den zivilmilitärischen Diktaturen Argentinien, Brasilien oder Chile, zuweilen auch wenn deutsche StaatsbürgerInnen betroffen waren.
Die deutsche Regierung müsste die rasche und umfassende Auswertung der jetzt freigegebenen Akten des Auswärtigen Amtes ermöglichen und zudem die diesbezüglichen Dokumente des Kanzleramts und des Bundesnachrichtendienstes zugänglich machen. Beispielsweise war der Waffenhändler und BND-Agent Gerhard Mertins mit Dina-Chef Manuel Contreras befreundet und gründete 1978 den Freundeskreis Colonia Dignidad, dem auch etliche Unionspolitiker angehörten.
Forderung nach Entschädigung
Neben einer offiziellen Entschuldigung für die Komplizenschaft deutscher Behörden und Diplomaten mit dem Unrechtssystem Colonia Dignidad, die sicherlich auch berechtigte Forderungen nach Schadenersatz nach sich ziehen dürfte, bedarf es einer umfassenden juristischen und politischen Aufarbeitung der Verantwortlichkeiten. Zusammen mit der chilenischen Regierung sollte ein umfangreiches Hilfsprogramm für die noch lebenden chilenischen und deutschen Opfer von Folter, Zwangsarbeit und sexuellem Missbrauch der Colonia Dignidad aufgelegt werden.
Als dafür ungeeignetes Mittel hat sich der aus Bundesmitteln geförderte Umbau der Kolonie in die Touristenattraktion „Villa Baviera“ erwiesen, die heute von der zweiten Generation der früheren Führungsriege geleitet wird. Weiter Oktoberfeste feiern lassen, wo früher vergewaltigt, gefoltert und gemordet wurde? Chilenische Opfer und MenschenrechtlerInnen fordern eine angemessene Gedenkstätte in Chile, gute Vorschläge liegen auf dem Tisch.
Zu Recht macht sich Joachim Gauck für eine tragende Rolle der Zivilgesellschaften beim Ausbau der Demokratie stark. Chilenische Menschenrechtsgruppen haben diesbezüglich viel erreicht. Nun geht es um Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerung. Die Opfer müssen ihre Würde zurückerlangen, die ihnen durch das kriminelle System Colonia Dignidad genommen wurde.
*Gerhard Dilger leitet das RLS Regionalbüro Brasilien/Cono Sur; Ingrid Wehr leitet das Cono-Sur-Regionalbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Santiago de Chile
Gemeinsam mit Präsident Gauck ist Regisseur Florian Gallenberger zu einer Vorpremiere seines Films „Colonia Dignidad“ angereist, der nach einigem Hin und Her im August anlaufen wird. Damit stehen erstmals auch in Chile die unrühmliche Rolle der bundesdeutschen Botschaft in Santiago und des Auswärtigen Amts in Bonn bezüglich der Menschenrechtsverbrechen in der Foltersekte auf der politischen Agenda.
Die 14 Quadratkilometer umfassende Colonia Dignidad wurde 1961 von dem Deutschen Paul Schäfer gegründet. Sie liegt rund 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago. 44 Jahre lang, von 1961 bis 2005, lebten bis zu 300 SiedlerInnen in der geschlossenen Welt der „Kolonie der Würde“ – vor allem Deutsche, zuletzt aber auch chilenische Kinder und Jugendliche.
Bald wurde ein straffes quasimilitärisches Regime mit Zwangsarbeit und religiöser Indoktrinierung errichtet. Schäfer selbst missbrauchte reihenweise Kinder und Jugendliche. Wem die Flucht gelang, für den war allzu oft die Botschaft Endstation – trotz frühzeitiger Informationen über das Treiben in diesem „Staat im Staate“ herrschte eine jahrzehntelange Komplizenschaft.
Deutsche Komplizenschaft
Nach dem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende 1970 verbündete sich die Colonia-Führungsriege mit rechtsextremen Kreisen. In den ersten Jahren der Pinochet-Diktatur (1973–90) installierte der chilenische Geheimdienst Dina auf dem weitläufigen Gelände eines seiner Folterzentren, wo vermutlich über hundert Regimegegner ermordet wurden. Auch handfeste Hinweise auf Waffenhandel, Giftgasproduktion und Geldwäsche gibt es im Zusammenhang mit der Foltersekte. Die Ermittlungen in Chile gehen schleppend voran – Verbündete in Justiz und Politik gibt es bis heute.
Schäfer wurde nach seiner Flucht 1997 und der Festnahme in Argentinien 2005 verurteilt, 2010 starb er in Haft. Ein Jahr darauf wurde sein Stellvertreter Hartmut Hopp wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt, er reiste jedoch aus und lebt seitdem in Krefeld. Erst vor wenigen Wochen beantragte die dortige Staatsanwaltschaft die Vollstreckung dieses Urteils.
Jahrzehntelang, selbst unter demokratischen Regierungen, hatte der chilenische Staat die Kolonie, als ein „deutsches“ Problem angesehen – umgekehrt waren die während der Pinochet-Jahre dort „Verschwundenen“ lange ein Tabu. Doch in den vergangenen Jahren hat sich Berlin bewegt. Seminare und eine Publikation wurden finanziert, und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier fand im April bemerkenswert selbstkritische Worte, als er die Akten der Jahre 1986 bis 1996 des Auswärtigen Amtes zum Thema „Colonia Dignidad“ freigab.
Achtung der Menschenrechte stand nicht so hoch im Kurs
Doch das ist nicht genug. Es geht um mehr als ein stillschweigendes Einverständnis zwischen konservativen Auslandsdeutschen und von der Bundesrepublik Deutschland entsandten Beamten, auch um mehr als das Fehlverhalten einzelner Diplomaten.
Steinmeier hat eingeräumt, dass damals „die Wahrung der Menschenrechte auf anderen Kontinenten […] nicht zentraler Gegenstand […] der deutschen Außenpolitik“ war. Ja, in den 1970er Jahren standen für die sozialliberale Koalition in Bonn Antikommunismus und gute Geschäftsbeziehungen höher im Kurs als die Achtung der Menschenrechte in den zivilmilitärischen Diktaturen Argentinien, Brasilien oder Chile, zuweilen auch wenn deutsche StaatsbürgerInnen betroffen waren.
Die deutsche Regierung müsste die rasche und umfassende Auswertung der jetzt freigegebenen Akten des Auswärtigen Amtes ermöglichen und zudem die diesbezüglichen Dokumente des Kanzleramts und des Bundesnachrichtendienstes zugänglich machen. Beispielsweise war der Waffenhändler und BND-Agent Gerhard Mertins mit Dina-Chef Manuel Contreras befreundet und gründete 1978 den Freundeskreis Colonia Dignidad, dem auch etliche Unionspolitiker angehörten.
Forderung nach Entschädigung
Neben einer offiziellen Entschuldigung für die Komplizenschaft deutscher Behörden und Diplomaten mit dem Unrechtssystem Colonia Dignidad, die sicherlich auch berechtigte Forderungen nach Schadenersatz nach sich ziehen dürfte, bedarf es einer umfassenden juristischen und politischen Aufarbeitung der Verantwortlichkeiten. Zusammen mit der chilenischen Regierung sollte ein umfangreiches Hilfsprogramm für die noch lebenden chilenischen und deutschen Opfer von Folter, Zwangsarbeit und sexuellem Missbrauch der Colonia Dignidad aufgelegt werden.
Als dafür ungeeignetes Mittel hat sich der aus Bundesmitteln geförderte Umbau der Kolonie in die Touristenattraktion „Villa Baviera“ erwiesen, die heute von der zweiten Generation der früheren Führungsriege geleitet wird. Weiter Oktoberfeste feiern lassen, wo früher vergewaltigt, gefoltert und gemordet wurde? Chilenische Opfer und MenschenrechtlerInnen fordern eine angemessene Gedenkstätte in Chile, gute Vorschläge liegen auf dem Tisch.
Zu Recht macht sich Joachim Gauck für eine tragende Rolle der Zivilgesellschaften beim Ausbau der Demokratie stark. Chilenische Menschenrechtsgruppen haben diesbezüglich viel erreicht. Nun geht es um Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerung. Die Opfer müssen ihre Würde zurückerlangen, die ihnen durch das kriminelle System Colonia Dignidad genommen wurde.
*Gerhard Dilger leitet das RLS Regionalbüro Brasilien/Cono Sur; Ingrid Wehr leitet das Cono-Sur-Regionalbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Santiago de Chile
Fotos: Gerhard Dilger, FDCL, Xarucoponce via wikipedia