Zivilgesellschaftliche Aufarbeitung der brasilianischen Diktatur am Beispiel des Bundesstaates Pernambuco
Von Sara Fremberg*
Mit dem Abschlussbericht der Nationalen Wahrheitskommission hat der brasilianische Staat im Dezember 2014 erstmals umfassend Verantwortung für die massiven Menschenrechtsverletzungen übernommen, die während der Diktatur (1964–1985) begangen worden sind. Zuvor war es vor allem die Zivilgesellschaft, die historische Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit leistete und sich für die juristische Verfolgung der Verantwortlichen einsetzte. Das offizielle Bekenntnis zur Wahrheit ist daher ein wichtiger, längst überfälliger Schritt für Brasilien.
Die lange Liste von Empfehlungen für notwendige staatliche Aufarbeitungs- und Demokratisierungsmaßnahmen und die Frustration und Hilflosigkeit der Kommission angesichts der verschlossenen Militärarchive zeigen jedoch, dass dies nur der Anfang gewesen sein kann. Die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit ist heute wichtiger denn je, um die Erkenntnisse des Berichts in eine echte Chance zu verwandeln, aber auch um an die offenen Fragen zu erinnern und dafür zu kämpfen, dass die Wahrheit nicht länger Unterpfand der Täter bleibt.
«Es ist leicht zu sagen, dass wir im Namen der nationalen Versöhnung alles vergessen müssen, während es so viele Familien gibt, die ihre Kinder suchen, ohne zu wissen, ob sie am Leben sind oder wo sie sind, ob sie tot sind und auf welchen Friedhöfen sie liegen. Wir wollen keine Rache, sondern Gerechtigkeit.»
Rosalina Santa Cruz, deren Bruder Fernando 1974 verhaftet wurde und seitdem «verschwunden» ist.
EINLEITUNG
Auf Polizeirevieren und in Krankenhäusern, in Folterkammern und «Todeshäusern» quälten Geheimpolizeien in den Jahren der brasilianischen Diktatur mindestens 1.843 Menschen,die sie aufgrund ihrer politischen Überzeugungen als Feinde der «inneren Sicherheit» identifiziert hatten. 434 Männer und Frauen wurden nach den Recherchen der Kommission getötet, 243 von ihnen sind bis heute «verschwunden». Sie wurden in der Regel verschleppt, gefoltert und ermordet. Ihre Leichen wurden an unbekannten Orten anonym beseitigt. All diese Verbrechen sind in den Archiven der für den Großteil der Taten verantwortlichen Militärs akribisch dokumentiert. Allein: Die Archive sind der Öffentlichkeit bis heute weitgehend verschlossen. Im Norden und Nordosten Brasiliens wurden darüber hinaus Tausende Landarbeiter und Kleinbauern aus ideologischen Gründen oder im Rahmen von Landkonflikten getötet. Ganze indigene Völker wurden versklavt, andere völlig ausgelöscht, weil sie privaten oder staatlichen Wirtschaftsinteressen im Weg standen. Eine schriftliche Überlieferung dazu gibt es kaum.
Vielmehr garantiert ein Amnestiegesetz vom 28. August 1979 den Tätern nach wie vor Straffreiheit. Angehörige, Anwälte und Menschenrechtsorganisationen versuchten bislang erfolglos, das Gesetz juristisch auszuhebeln. Zuletzt beantragte der brasilianische Anwaltsverband beim Obersten Gerichtshof des Landes, die Verfassungskonformität des Gesetzes zu prüfen und Menschen, die Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung und andere Gewalttaten begangen haben, von der Amnestie auszunehmen. Der Antrag wurde im Jahr 2012 erneut abgelehnt, obwohl kurz zuvor auch der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte das Gesetz für ungültig erklärt hatte, weil Verbrechen gegen die Menschlichkeit immer und überall strafbar sind.
Im Unterschied zu den Militärregimen in Ländern wie Chile (1973–1990) und Argentinien (1976–1983), in denen Zehntausende Menschen als Opfer oder deren Angehörige direkt von staatlicher Gewalt betroffen waren, ging der brasilianische Repressionsapparat gezielt und systematisch gegen eine verhältnismäßig kleine Gruppe von meist jungen Männern und Frauen vor, die sozialistische oder kommunistische Ideale vertraten. Dies tangierte das Leben vieler Brasilianer nicht unmittelbar. Gleichzeitig empfand insbesondere die konservative, «besitzende» Klasse die sozialrevolutionären Ideen im Kontext des Kalten Krieges oft als Bedrohung der bestehenden Gesellschaftsordnung und sah die staatliche Gewalt gegen die «linken Terroristen» als gerechtfertigt an. So wurden die Verbrechen jahrzehntelang sowohl von der breiten Öffentlichkeit als auch von den Zivilregierungen verdrängt und nur zögerlich aufgearbeitet.
Dagegen regte sich schon in den letzten Jahren der Diktatur Widerstand: Zivilgesellschaftliche Projekte und Gruppen organisierten sich, um die Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Dabei sorgten sie nicht nur für Aufklärung, indem sie Folterungen und die dafür Verantwortlichen öffentlich machten, sondern begleiteten und unterstützten auch die Opfer. Sie rekonstruierten detailliert die Umstände von Entführungen und Folterungen und versuchten, das Leid dertraumatisierten Hinterbliebenen zu lindern und ihnen Gewissheit über den Verbleib der «Verschwundenen» zu geben. Viele Fälle konnten jedoch nicht endgültig aufgeklärt, die Leichen der Menschen nicht gefunden oder gar beigesetzt werden. Letzte Anhaltspunkte sind häufig Aussagen von Freunden und politischen Mitstreitern der Opfer, die bei der Entführung dabei waren oder von letzten Lebenszeichen aus der Haft berichten können.
Erst Mitte der 1990er Jahre begann der Staat zögerlich, auf einzelne Forderungen der Zivilgesellschaft einzugehen – unter anderem durch die Einsetzung von Entschädigungskommissionen. Als dann im Jahr 2009 endlich der erste Gesetzesentwurf für eine Nationale Wahrheitskommission vorgelegt wurde, wuchs die Hoffnung, dass ein staatlich legitimiertes Gremium es schaffen würde, das Schweigen der Militärs zu durchbrechen.
Doch diese bewiesen, dass sie auch fast 25 Jahre nach dem Ende der Diktatur politisch mächtig waren: Der Verteidigungsminister und die Führung der Streitkräfte zwangen den amtierenden Präsidenten Lula da Silva mit Rücktrittsdrohungen, das Mandat der Kommission zu schwächen. Um eine Konzentration auf die staatlichen Verbrechen der Militärs zu verhindern, wurde der ursprünglich vorgesehene Untersuchungszeitraum (1964–1985) auf über 40 Jahre ausgeweitet (1946–1988) und die Formulierung von Menschenrechtsverletzungen «im Kontext der politischen Repression» gestrichen. Vor allem aber wurde die Kommission nur beauftragt, Untersuchungen anzustellen – das Einleiten von Strafprozessen wurde explizit ausgeschlossen.
Nach ihrer Einsetzung im Mai 2012 fokussierte die Nationale Wahrheitskommission ihre Arbeit dennoch auf die politische Repression der Diktaturjahre, scheiterte jedoch an der Blockadehaltung der Militärs, die Akten und Beweismittel bewusst zurückhielten und öffentliche Stellungnahmen verweigerten. Die wenigen Offiziere, die tatsächlich vor der Kommission aussagten, ließen sich im Schutz des Amnestiegesetzes stolz und vor laufenden Kameras über ihre brutalen Verbrechen aus und verweigerten gleichzeitig konkrete Hinweise, die zur Wahrheitsfindung hätten beitragen können.
Nur einen einzigen Fall von «Verschwindenlassen» konnte die Kommission in ihrer zweieinhalbjährigen Amtszeit aufklären. (Die sterblichen Überreste von Epaminondas Gomes de Oliveira wurden am 24.9.2013 aufgrund von Recherchen der Kommission exhumiert, identifiziert und seiner Familie übergeben.) Ein entmutigendes Zeichen für die brasilianische Aufarbeitungsbewegung und insbesondere die vielen staatlichen und nicht staatlichen Wahrheitskommissionen, die sich nach dem nationalen Vorbild in einzelnen Bundesstaaten und in Institutionen wie Universitäten und Gewerkschaften gegründet hatten – auch in Pernambuco.
ZIVILGESELLSCHAFTLICHE AUFARBEITUNG IN PERNAMBUCO
Der nordöstliche Bundesstaat Pernambuco war eines der Zentren des Widerstands gegen die brasilianische Diktatur und daher auch besonderes Ziel der staatlichen Repression. Politische Oppositionelle und Angehörige der Schüler- und Studentenbewegungen, Mitglieder der Bauernvereinigungen und sogar der amtierende Gouverneur Miguel Arraes stellten sich 1964 den Putschisten entgegen. Viele bezahlten ihren Mut mit dem Leben, wurden gefoltert und inhaftiert oder mussten das Land verlassen. Andere gingen in den Untergrund und schlossen sich den verschiedenen bewaffneten und unbewaffneten Widerstandsgruppen an. Die regionale Wahrheitskommission geht derzeit von mindestens 51 Menschen aus, die aus politischen Gründen ermordet wurden. Ein offizieller Bericht nennt mindestens 86 getötete Landarbeiter und Kleinbauern. Seit Mitte der 1980er Jahre arbeiten Nichtregierungsorganisationen, private Institutionen und unabhängige Aktivisten in Pernambuco an der Aufarbeitung dieser Diktaturverbrechen und deren Anerkennung durch den Staat. Aufgrund der besonderen Rolle der Regierung im Widerstand gegen die Diktatur bringen sich die Behörden des Bundesstaates heute stärker als in vielen anderen Regionen aktiv in die Aufarbeitung ein und suchen die Vernetzung mit der Zivilgesellschaft.
Tortura Nunca Mais Pernambuco. Im Jahr 1984 entstand in Rio de Janeiro die erste Gruppe Tortura Nunca Mais (Nie mehr Folter). In den folgenden Jahren gründeten ehemalige Widerstandskämpfer überall im Land weitere Gruppen, die diesen Namen trugen und die gleichen Ziele verfolgten, so 1986 auch in Pernambuco. Wie viele andere Gruppen unterstützte Tortura Nunca Mais Pernambuco anfangs vor allem die Familien der Opfer, indem sie Listen mit den Namen von Menschen veröffentlichten, die vom Regime ermordet oder verschleppt worden waren. Sie rekonstruierten die Umstände dieser Verbrechen, damit die Hinterbliebenen Entschädigungsansprüche geltend machen konnten.
Tortura Nunca Mais machte es sich außerdem zur Aufgabe, die für Folterungen verantwortlichen staatlichen Institutionen und Personen öffentlich anzuprangern und für ihre Schließung beziehungsweise Absetzung zu mobilisieren. Das war während der letzten Jahre der Diktatur und der Übergangsphase in die Demokratie ein nicht ungefährliches Unterfangen. Die Gruppe in Pernambuco erreichte unter anderem im Jahr 1988, dass die regionale Zentrale der Geheimpolizei DOPS (Departamento de Ordem Política e Social) geschlossen wurde, die während der Diktatur für viele Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war. Die Akten der Behörde sind dank des zivilgesellschaftlichen Drucks seit 1991 der breiten Öffentlichkeit zugänglich. 1993 brachten die Aktivisten Beweise für Folterungen durch Roberto de Araújo Porto an die Öffentlichkeit, der kurz zuvor zum Leiter der Bundespolizei ernannt worden war. Porto wurde aufgrund dieser Vorwürfe aus dem Staatsdienst entlassen.
Das bislang öffentlich sichtbarste Zeichen ihres unermüdlichen Engagements setzte Tortura Nunca Mais mit dem Denkmal gleichen Namens – «Nie wieder Folter» –, das im Jahr 1993 in Recife als erste brasilienweite Erinnerungsstätte für die Opfer der Diktatur eingeweiht wurde.
Das Kulturzentrum Manoel Lisboa. Das nach einem der wichtigsten Gründer und Führer der Kommunistischen Revolutionären Partei (Partido Comunista Revolucionário) benannte Kulturzentrum Manoel Lisboa gedenkt den Mitgliedern dieser Partei, die im Widerstand gegen die Diktatur aktiv waren oder ihr zum Opfer fielen. Ein wichtiges Anliegen des Zentrums war und ist die Lokalisierung der sterblichen Überreste von «Verschwundenen», wie Manoel Lisboa und Emanuel Bezerra dos Santos.
Die zwei Männer wurden im Sommer 1973 von Agenten des Repressionsapparates verhaftet und brutal zu Tode gefoltert. Die verantwortlichen Militärs ließen über die Zeitungen verbreiten, die beiden wären bei einem Schusswechsel mit Beamten ums Leben gekommen. Ihre Leichen blieben «verschwunden». Seit den 1980er Jahren rekonstruierten die Mitarbeiter des Kulturzentrums mithilfe von Zeugenaussagen und militärischen Geheimakten aus dem DOPS-Archiv in Recife die Wahrheit über das Verbrechen. Mit Erfolg: 1991 konnten die Leichen von Lisboa und Bezerra aus einem Massengrab in São Paulo exhumiert, identifiziert und ihren Familien übergeben werden.
Das Gedenkstättenprojekt Engenho Galiléia. Die beiden Aktivisten Anacleto Julião und José da Silva erinnern auf der alten Zuckerfarm Galiléia, etwa 50 Kilometer westlich von Recife, an den Kampf der ligas camponesas: Die Bauernvereinigungen hatten sich seit 1955 für die Rechte der Bauern und Landarbeiter eingesetzt, die zu dieser Zeit in großer Armut lebten und der feudalistischen Herrschaft der Großgrundbesitzer hilflos ausgeliefert waren. Aufgrund dieser Aktivitäten wurden die ligas bereits beim Putsch 1964 von den Militärs, aber vor allem von den Großgrundbesitzern und ihren Privatmilizen, den sogenannten capangas, zerschlagen und viele ihrer Mitglieder gefoltert und ermordet.
Auf dem 500 Hektar großen Galiléia, dem Gründungsort der ersten liga camponesa, betreuen die beiden Männer eine kleine Bibliothek, in der Bücher, alte Zeitungsausschnitte, Fotos und anderen Dokumente und Objekte Aufschluss geben über die Entstehung und den Kampf der Bauernvereinigungen. Sie führen Schüler und Studenten über den historischen Ort und beraten Wissenschaftler und Journalisten, die zum Thema forschen.
In der casa da farinha, dem früheren Mehldepot, in dem sich die Galiléia-Bauern einst versammelten, steht seit April 2013 eine Plakette, die die Errichtung einer Gedenkstätte für die ligas camponesas und Francisco Julião, einen ihrer Anführer, ankündigt. Sie soll neben der Bibliothek ein Denkmal und ein Auditorium für Konferenzen und Studien beinhalten. Doch die Verwirklichung des Projekts ist nicht nur aus finanziellen Gründen ungewiss.
Denn während die Aufarbeitung des parteipolitischen Widerstands und seiner Verfolgung zumindest auf dem Weg ist, steht die Aufklärung der Verbrechen auf dem Land noch ganz am Anfang. Dies liegt vor allem daran, dass die Verbrechen der Großgrundbesitzer und ihrer capangas im Gegensatz zu den Menschenrechtsverletzungen der Militärs kaum schriftlich dokumentiert sind.
Gleichzeitig besitzt die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen an der Landbevölkerung, aber auch an den indigenen Völkern eine besondere politische Brisanz: Sie würde offiziell belegen, dass mit Großgrundbesitzern, Siedlern und Unternehmern zivile Gruppen an Putsch und Diktatur beteiligt waren und mit den Militärs kollaborierten. Eine unangenehme Wahrheit in einem Land, in dem feudalistische Machtstrukturen in vielen ländlichen Regionen die Diktatur überdauert haben und nach wie vor Politik und Alltag bestimmen.
Das GAJOP. Viele gegenwärtige Menschenrechtsprobleme, wie die exzessive Polizeigewalt und die Straflosigkeit, haben in Brasilien ihren Ursprung in den autoritären und gewaltgeprägten Strukturen, die während der Diktatur etabliert wurden und beim Übergang in die Demokratie erhalten blieben. Die 1981 von Anwälten in Recife gegründete juristische Beratung von Basisorganisationen (GAJOP, Gabinete Assessoria Jurídica Organizações Populares) hat sich auf diese Probleme spezialisiert.
Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte und Politiker, aber auch Verbrechen von Privatunternehmern und Großgrundbesitzern, die ihre Interessen illegal durchsetzen, werden in Brasilien oft nicht umfassend und unabhängig untersucht, verfolgt und geahndet. Täter bleiben straffrei, weil die Betroffenen nicht ausreichend über ihre Rechte informiert werden oder sich die zeit- und kostenintensiven Prozesse nicht leisten können. Urteile werden, wenn es überhaupt dazu kommt, oft nur mangelhaft durchgesetzt. Und während der Staat den Opfern und ihren Angehörigen Gerechtigkeit verweigert, sind sie weiterer Gewalt und Willkür schutzlos ausgeliefert. Das GAJOP begleitet und betreut diese Fälle juristisch und reicht, wenn ein Fall alle nationalen Gerichtsinstanzen durchlaufen hat, eine Petition ein, damit er vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt werden kann.
Das Miguel-Arraes-Institut. Das Miguel-Arraes-Institut in Recife bewahrt das Andenken an den ehemaligen Gouverneur Pernambucos, Miguel Arraes, der während des Putsches von den Militärs verhaftet wurde, weil er sich weigerte zurückzutreten. Er verbrachte über ein Jahr im Gefängnis, wurde ins Exil gezwungen und kehrte erst nach seiner Amnestierung 1979 nach Pernambuco zurück. In den Jahren 1987 bis 1990 und 1995 bis 1999 war er erneut Gouverneur des Bundesstaates. Der Widerstand ihres ehemaligen Gouverneurs gegen die Diktatur prägt das Selbstbild der Pernambucanos und ihrer Regierungen bis heute. Die kritische Aufarbeitung der Diktatur ist auch in der nicht unmittelbar betroffenen Mehrheitsgesellschaft relativ akzeptiert, und das Institut erreicht mit seiner Erinnerungsarbeit eine breite Öffentlichkeit: eine wichtige Grundlage für die Arbeit jener Organisationen, die sich für die Anerkennung der weniger bekannten Opfer in der Landbevölkerung oder den indigenen Gemeinden einsetzen.
Zudem arbeiten im Rahmen einzelner Projekte zivilgesellschaftliche Akteure mit den Behörden des Bundesstaates in der Erinnerungsarbeit zusammen. So werden beispielsweise vom Menschenrechtssekretariat organisierte Geschichtsprojekte an Schulen von ehrenamtlichen Zeitzeugen begleitet. Ein weiteres Beispiel der Zusammenarbeit von Behörden und Zivilgesellschaft war das Gesetz zur Einrichtung einer regionalen Wahrheitskommission, bei dessen Formulierung sich die Regierung des Bundesstaates vom Komitee für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, Pernambuco, beraten ließ. Die Kommission selbst wurde übrigens im Juni 2012 von Eduardo Campos eingesetzt, dem damaligen Gouverneur und Enkel von Miguel Arraes.
Das Komitee für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, Pernambuco. Im Jahr 2011 gründeten Tortura Nunca Mais Pernambuco, das GAJOP und das Kulturzentrum Manoel Lisboa zusammen mit Aktivisten wie Anacleto Julião und den Angehörigen von «Verschwundenen» das Komitee für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, Pernambuco. Unter dem Motto «Kämpfen, immer. Aufgeben, niemals.» (Lutar, sempre. Desistir, nunca) diskutieren sie aktuelle Entwicklungen der Aufarbeitung in Pernambuco und tauschen sich über ihre Projekte aus. Ihr Ziel ist es, mit gebündelten Kräften sowohl die breite Öffentlichkeit als auch Vertreter der Politik für die Notwendigkeit einer historischen und juristischen Aufarbeitung der Diktatur zu sensibilisieren und zu mobilisieren.
In diesem Rahmen hat das Komitee auch schon einige gemeinsame Projekte realisiert. Im Jahr 2012 wurden in Kooperation mit der Stadt Recife an einer Reihe von Plätzen Plaketten angebracht, die diese als Gedenkorte ausweisen und schildern, wer wann an dieser Stelle einem Diktaturverbrechen zum Opfer fiel. Im Rahmen einer Straßenaktion widmeten Aktivisten im selben Jahr einen nach General Emílio Garrastazu Médici (Diktaturpräsident 1969–1974) benannten Viadukt in Recife kurzerhand in Padre Henrique Pereira um, einem Vertreter des kirchlichen Widerstands. In der letzten Augustwoche organisiert das Komitee alljährlich Veranstaltungen und Aktionen, die über das Amnestiegesetz und seine juristischen Folgen informieren.
Den politisch bedeutsamsten Beitrag zur Aufarbeitung leistete das Komitee bereits kurz nach seiner Gründung, als die amtierende Regierung des Bundesstaates 2011, wenn auch sehr kurzfristig, um Input für ein Gesetz zur Gestaltung einer regionalen staatlichen Wahrheitskommission bat. Sie sollte Menschenrechtsverletzungen untersuchen, die zwischen 1946 und 1988 in Pernambuco beziehungsweise an Pernambucanos begangen wurden.
Ausgehend von den Strukturen, die das zu diesem Zeitpunkt bereits verabschiedete Gesetz für die Nationale Wahrheitskommission vorsah, brachte das Komitee einige Neuerungen ein. So wurde die Anzahl der Kommissionsmitglieder von sieben auf neun vergrößert und festgelegt, dass von diesen mindestens zwei Drittel von der Zivilgesellschaft bestimmt werden sollten. Die drei übrigen Kommissionsmitglieder würden vom Staat benannt. Außerdem wurde die Kommission zu Zusammenarbeit und Austausch mit staatlichen Institutionen, unter anderem der Nationalen Wahrheitskommission, und nicht staatlichen Organisationen, darunter dem Komitee, verpflichtet.
Die Zwischenbilanz der im Juni 2012 eingesetzten Wahrheitskommission von Pernambuco (Comissão Estadual da Memória e Verdade Dom Hélder Câmara) ist dennoch ähnlich ernüchternd wie die ihres nationalen Pendants. Die bisherigen Recherchen und Veröffentlichungen brachten kaum neue Fakten hervor. Verantwortliche Militärs wurden in den meisten Fällen gar nicht erst vorgeladen, und ausgerechnet dort, wo die Landbevölkerung während der Diktatur mit am stärksten von Repressionen betroffen war, wird mündlichen Zeugenaussagen wenig Gewicht beigemessen, sondern der Mangel an schriftlichen Beweisen geradezu überbetont. Noch hat die Kommission von Pernambuco bis Juni 2016 Zeit, die Spielräume ihres Mandats auszunutzen und aus den Erfahrungen der Nationalen Wahrheitskommission zu lernen.
EINE CHANCE FÜR AUFARBEITUNG UND GERECHTIGKEIT?
Ob der Abschlussbericht der Nationalen Wahrheitskommission einen bedeutenden Fortschritt für die Aufarbeitung der brasilianischen Diktatur darstellt, liegt jedoch nicht nur in den Händen staatlicher Wahrheitskommissionen. Diese sind wichtige Instrumente zur Rekonstruktion historischer Fakten. Sie erreichen aufgrund ihrer politischen Autorität eine breite Öffentlichkeit und schaffen mit ihren Recherchen und Empfehlungen wichtige Grundlagen und Anknüpfungspunkte für die zukünftige Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit in Brasilien und den Umgang mit vergangenen und aktuellen Menschenrechtsverletzungen. Doch ihre Mandate sind zeitlich und thematisch begrenzt und ihre Befugnisse gegenüber den für die Mehrzahl der Diktaturverbrechen verantwortlichen Militärs stark eingeschränkt.
Die offenen Fragen des Berichts machen deutlich, dass die Wahrheit ohne ein stärkeres Engagement von Politik und Mehrheitsgesellschaft in den Militärarchiven verborgen bleiben wird. Die Regierung kann neue Wahrheitskommissionen einrichten, die speziell die Menschenrechtsverletzungen an bestimmten Bevölkerungsgruppen untersuchen, oder sie kann die Mandate der bestehenden Wahrheitskommissionen erweitern. Auf jeden Fall aber muss sie den Forderungen an die Militärs politischen Nachdruck verleihen. Die Erinnerung an die Verbrechen muss durch nationale Gedenktage, Denkmäler und Schullehrpläne Teil der brasilianischen Erinnerungskultur werden, damit ein kollektives Bewusstsein und Geschichtsbild für das vergangene Unrecht entstehen kann. Nur so werden neue Generationen dazu befähigt, Aufarbeitungsprozesse selbstbewusst zu begleiten und fortzuführen, vergangene Menschenrechtsverletzungen zu identifizieren und ihre Wiederholung zu verhindern.
Die Reaktion der Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff auf den Abschlussbericht ist bislang verhalten. Mit keinem Wort ging Rousseff, die als ehemaliges Widerstandsmitglied selbst gefoltert wurde, seit der Übergabezeremonie konkret auf die Empfehlungen der Kommission ein. Auch politisch bedeutsame Aussagen des Berichts wie die namentliche Nennung von 377 für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Militärs, das Bekenntnis zur Notwendigkeit einer juristischen Aufarbeitung oder die Forderung nach der Entmilitarisierung der Polizei blieben unkommentiert. Eine Revision oder Reinterpretation des Amnestiegesetzes, das die Strafverfolgung der Täter ermöglichen würde, kann jedoch ebenso wie die Reformierung des Sicherheitsapparats oder die Förderung einer nationalen Erinnerungskultur nur durch den Staat beziehungsweise die Regierung angestoßen und verwirklicht werden. Zivilgesellschaftliche Akteure und ihre Projekte, ihr Wissen und ihre Erfahrungen sollten in diesen Prozess einfließen, sie können den Staat jedoch nicht ersetzen.
Nun liegt es daher in der Hand der brasilianischen Öffentlichkeit, für die Fortführung der historischen und juristischen Aufarbeitung zu mobilisieren und den Militärs die Stirn zu bieten. Es gilt, die Regierung davon zu überzeugen, dass Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerung die Schlüssel zu einer friedlichen und demokratischen Gesellschaft sind und keine Gefahr für die «nationale Versöhnung» darstellen, wie es von konservativen Kreisen gern kolportiert wird – im Gegenteil: Mit den Ergebnissen und Empfehlungen der Wahrheitskommission bietet sich für Brasilien die historische Chance, aus der Vergangenheit zu lernen und eine tatsächliche Aussöhnung aller Brasilianerinnen und Brasilianer mit der Vergangenheit zu ermöglichen.
*Sara Fremberg ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Pressereferentin bei Amnesty International. Im Jahr 2014 recherchierte sie während eines Sabbaticals vor Ort und veröffentlichte die Ergebnisse im Blog http://www.memoriaeverdade.com.
Der Text erschien im März 2015 in der Reihe Standpunkte der Rosa-Luxemburg-Stiftung.