Noch unter der Militärdiktatur gründete sich 1975 mit Unterstützung der katholischen Bischofskonferenz Brasiliens die Kommission für Landpastorale (CPT). Ihr Ziel: An der Seite der Kleinbauern und Landlosen etwas gegen die strukturelle Situation des Latifundiums in Brasilien zu unternehmen. Gleichzeitig unterstützte die Landpastorale von Anfang an die Rechte der traditionellen Gemeinschaften, der indigenen Völker, der Afroamerikaner*innen, der Küstenbevölkerung
Interview von Ana de Ita und Gerold Schmidt, npla/ila
Heute ist die CPT im ganzen Land vertreten. Sie sieht ihre Aufgabe in der Vernetzung von Bewegungen, häufig arbeitet sie eng mit der Landlosenbewegung MST zusammen. Die CPT ist ebenfalls Mitglied der internationalen Organisation Vía Campesina
Ende Mai 2017 weilten Cesar Moreira Santos (Mitglied der Nationalen CPT-Koordination) sowie der Anwalt und Hochschulprofessor Afonso Chagas (CPT-Freiwilliger im Bundesstaat Rondônia) in Mexiko. Ana de Ita und Gerold Schmidt führten dort ein ausführliches Interview mit ihnen, das in der ila 407 nachzulesen ist. Im Folgenden eine gekürzte Fassung.
Wie seht ihr die aktuelle politische Situation in Brasilien?
Paulo Cesar Moreira Santos: Wir sprechen von einem Staatsstreich und einer illegitimen Regierung. Der brasilianische Kongress mit seinen 513 Abgeordneten und 81 Senator*innen hat wegen der extremen Korruption keine Glaubwürdigkeit mehr in der Bevölkerung. Im Land und im Kongress dominiert die Landoligarchie.
Diese Interessensfraktionen bestimmen die Politik zu ausgewählten Fragen. Sie verfolgen surreale Ziele: Beispielsweise gibt es eine staatliche Gesetzesinitiative, die die Entlohnung der Landarbeiter*innen mit Nahrungsmitteln erlauben will. Gerade ist ein Entwurf im Kongress eingebracht worden, der eine längere Arbeitszeit vorsieht. Die Verhandlung zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten soll höherrangig als die Gesetzgebung sein. Es gibt eine Gesetzesinitiative, mit der das Konzept der Sklavenarbeit neu definiert wird. Die Landfraktion will mehrere Kriterien abschaffen, die Sklavenarbeit definieren, damit diese nicht mehr festgestellt werden kann. Die Politiker sind Instrument in diesem Prozess des Kapitals1: für den Landzugang, damit immer mehr Territorien dem Markt zugeführt werden, Rohstoffe, Minerale, Naturschätze exportiert werden. Die Politik wird von den Großunternehmen gemacht. Sie haben eine starke Lobby, die den gesamten Kongress beeinflusst.
Was bedeutet die aktuelle Regierung für die ländlichen Regionen und das Agrobusiness?
Afonso Chagas: Die Regierung von Michel Temer ist kurz davor, ein Gesetz zu beschließen, welches das Land zur reinen Geschäftsangelegenheit macht. Nur wer Land kaufen kann, soll es bekommen. Damit ist der ohnehin geschwächte Kampf für eine Agrarreform ganz verloren. Das kann zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Dem Kleinbauern wird gesagt, wir werden ein Dokument erstellen. Wenn du dafür nicht bezahlst, kannst du das Land verkaufen oder einem anderen geben, der zahlen kann. Die brasilianische Verfassung eröffnete mit der Reform von 1988 erstmals die Möglichkeit, die Rechte auf Eigentum und Land aus sozialer Perspektive anzuerkennen. Die Agrarreform war unvermeidlich, um immense Flächen neu verteilen zu können, um den Campesinos Land und Unterstützung für die Lebensmittelproduktion, die Vermarktung und bessere Lebensbedingungen geben zu können. Die Campesinos organisierten und mobilisierten sich mit Hilfe der CPT und der MST, um brachliegendes Land zu besetzen, das seine soziale Funktion nicht erfüllte.
Paulo Cesar Moreira Santos: Ziel der aktuellen Politik ist es, das Land verfügbar, verkäuflich zu machen. Die Großunternehmer, die Großgrundbesitzer bedrängen auch die asentamentos2 der MST. Sie kaufen, kaufen, kaufen und bringen erneut große Landstücke zusammen. Die Landkonflikte sind seit 2015 auch auf dem Land und den Territorien der asentamentos angestiegen. Eine weitere Politik, die dies erleichtert: Die Zuständigkeit wird auf die lokale Ebene mit ihren eigenen Machtstrukturen verlegt. Den Bewegungen, die seit 15 Jahren auf der Straße neben brachliegendem oder unproduktivem Land lagern (acampamentos) und auf eine Bodenzuteilung warten, wird damit die Kraft genommen.
Afonso Chagas: Nicht mehr die campierenden Familien werden konsultiert, sondern die lokalen Mächte, die Präfekturen und Agrarbehörden der Provinz.
Paulo Cesar Moreira Santos: Die für die Agrarreform verantwortlichen Organe, wie die Nationale Siedlungs- und Agrarreformbehörde (Incra), sollen abgewickelt werden. Das Ministerium für Agrarentwicklung wurde einfach abgeschafft, ebenso die Behörde für Konfliktschlichtung. Ähnlich sieht es mit der Nationalen Indigenen-Stiftung (Funai) aus. Sie übernimmt Funktionen der Incra für die Quilombolas und die Indigenen. Trotz aller ihrer Widersprüchlichkeit bot sie Raum für Diskussionen. Nun wurde ihr das Geld radikal gestrichen.
Wie ist die Situation der asentamentos?
Paulo Cesar Moreira Santos: Die asentamentos sind sehr verwundbar. Sie sind eine historische Errungenschaft, oft mit Ermordeten bezahlt. Aber nach der Erlangung des Landes kommt der Staat mit seinen Bedingungen. Die historische Situation der asentamentos ist sehr komplex, sie basiert auf drei Säulen: Für das enteignete, brachliegende Land bekamen die Großgrundbesitzer oft millionenschwere Entschädigungen, der Staat hat dafür viel Geld aufgebracht. Das Gesetz und die Entschädigungszahlungen gehen noch auf die Militärdiktatur zurück. Zweitens kommt die technische Hilfe von Männern und Frauen, die an Universitäten in der Tradition des Agrobusiness ausgebildet wurden. Diese technische Wissenschaft fördert nicht unbedingt eine kleinbäuerliche Identität. Die dritte Säule ist der Regierungskredit, mit dem sich die Campesinos verschulden. Die Ansiedlungspolitik geht über den Kongress, die Politiker des Agrobusiness. Das macht heute die Politik zugunsten der asentamentos immer anfälliger.
Aber die Mentalität innerhalb der Bewegungen, vor allem in den traditionellen Gemeinschaften – Indígenas, Quilombolas – ändert sich. Es wird klar, auf den Staat ist nicht zu zählen. Die traditionellen Gemeinden grenzen ihr Territorium selbst ab und organisieren sich, wollen den Staat nicht dabei haben.
Afonso Chagas: Beim Landkampf im Amazonasgebiet geht es heute wesentlich um öffentliches Land, nicht um Enteignung und Entschädigungszahlungen. Es geht darum, wer dieses Staatsland bekommt. Es gibt eine Incra-Studie, die von 70 Millionen Hektar öffentlichem Land ausgeht. Bei einer Agrarreform für Kleinbauern würde niemand ohne Land bleiben. Aber nein, die gesetzliche „Regularisierung“ des Staatslandes zielt auf große Flächen von 2.000, 2.500 Hektar ab.
Paulo Cesar Moreira Santos: Derzeit befinden sich mindestens 40 Gesetzesinitiativen im Kongress, bei denen es um die Agrarfrage geht, darum, die Rechte der Kleinbauern zu beschneiden und die Gesetzgebung zugunsten der Expansion des Agrobusiness zu stärken. Auch die Waldgesetzgebung ist ein Beispiel. Die Möglichkeit, Monokulturen in vorher dafür nicht zugelassenen Arealen anzupflanzen, wurde erweitert. Zudem werden den Unternehmen Explorationsrechte erleichtert, sei es auf indigenen Territorien oder den asentamentos. Ein anderes Detail: Der aktuelle Agrarminister Blairo Maggi, ein Verbündeter Monsantos, ist der weltweit größte Sojaproduzent.
Inwieweit ist PT für die heutige Situation mitverantwortlich?
Paulo Cesar Moreira Santos: Die PT hat zum Staatsstreich beigetragen, indem sie die Bedingungen dafür schuf. Ein Beispiel ist die Agrarpolitik. Die beiden Lula-Regierungen förderten und finanzierten viele Unternehmen aus dem Agrobusiness. Dilma ließ sich mit einer großen Soja-Produzentin auf dieses Geschäft ein. Sie ernannte ihre persönliche Freundin Kátia Abreu zur Landwirtschaftsministerin, eine wichtige Vertreterin des brasilianischen Agrobusiness, die viel Einfluss hatte. Die konservative Elite, die ihre Wurzeln in der Kolonialzeit hat, akzeptierte nicht einmal eine Verteilungspolitik á la PT.
Dabei zielte diese unserer Auffassung nach nicht auf strukturelle Änderungen. Agrarstruktur, Einkommens- und Machtkonzentration wurden nicht angetastet. Die PT-Regierung verschaffte der armen Bevölkerung Zugang zum Markt, zum Shopping, durch Einkommenstransfer. Aber sie investierte nicht in mehr und kritische Bildung. Sie setzte auf den Zugang zu Markt- und Konsum, nicht auf Bürgerschaft – ein tragischer Irrtum. So wendete sich die erste Krise direkt gegen die PT, weil die Prozesse nicht verstanden wurden.
„Kaufen, kaufen“ war das Motto in den Medien. Mit den Krediten häuften sich die Schulden und die Medien gaben der PT die Schuld. Meine Lesart ist ein interner Dekonstruktionsprozess der PT. Bei den ersten Wahlen war sie die große, starke Hoffnung der Armen. Dann verliert sie an Beliebtheit. Nicht Lula, aber die sich von der Basis entfernende Partei. Die Distanz wird so substantiell, dass die PT enorm an Repräsentativität verliert. Zu Anfang Lulas und der linken Regierung gab es auch große Erwartungen von Seiten der Landbewegungen. Ein Gutteil von deren Führungsfiguren ging in die Regierung. Das hat die Bewegung ein bisschen demobilisiert und geschwächt. Die Bewegung sagte damals „die Regierung gehört uns“. Davon ist wenig geblieben.
Afonso Chagas: Nur die organisierten Sektoren, soziale Bewegungen, Gewerkschaften, verteidigten Dilma auf der Straße, die breite Bevölkerung nicht. Viele blieben passiv.
Wie ist die Menschenrechtslage auf dem Land?
Paulo Cesar Moreira Santos: Im vergangenen Jahr wurden 61 Kleinbauern in Brasilien umgebracht. In 2017 sind es bis jetzt schon 37. Ganz zu schweigen von Todesdrohungen und physischer Gewaltanwendung wie gegen die indigenen Gamela. Die Großgrundbesitzer fühlen sich heute von der Regierung geschützt, sie haben eine Lizenz zum Töten. Was die Polizei macht, ist Staatsterrorismus, die Bewegungen werden kriminalisiert, Angst soll geschürt werden. Früher entfiel die Gewalt vor allem auf die von den Großgrundbesitzern angestellten Privatmilizen.
Afonso Chagas: Die Grundbesitzer nehmen Auftragsmörder unter Vertrag. Ein Phänomen, das uns große Sorge macht: die paramilitärischen Milizen, die häufig aus ehemaligen Soldaten oder Reservisten bestehen. Das jüngste Massaker an neun Männern und einer Frau in Pau d’Arco, im Süden von Pará, wurde Ende Mai von der Polizei begangen. Die Opfer kämpften um Land. Die Gewalt ist besonders heftig in den Bundesstaaten Pará, Rondônia, und Mato Grosso. Dort gibt es viel öffentliches Land und mehr als 300 Konflikte. Die Großgrundbesitzer haben es auf das öffentliche Land abgesehen. Oft ist dieses Land von Kleinbauern besetzt, die es vom Staat einfordern. Aber häufig wurde bereits zuvor mit diesem Land spekuliert. Viele wollen es für das Agrarbusiness oder Immobilienprojekte und besorgen sich die Berichtsbeschlüsse. Nicht selten sind die Richter Kinder von Großgrundbesitzern, die Kläger können sich völlig auf die parteiische Justiz verlassen. Dieser Kontext spielt dem Tod, den Massakern in die Hände. In den vorherigen Jahren waren es Einzelfälle, jetzt gilt die Gewalt ganzen Gemeinschaften. Haftbefehle sind Fehlanzeige. Die Taten werden vermummt begangen.
Es wird versucht, eine Art Landkarte über Führungspersönlichkeiten zu erstellen. Die Telefone werden abgehört. Im Jahr 2013 gab es ein Gesetz über verbrecherische Organisationen, 2016 wurde ein Anti-Terrorismusgesetz verabschiedet, unter das auch die sozialen Bewegungen fallen können. Nicht einmal zu Militärzeiten gab es solche Gesetze. Es ist fatal: Das Anti-Terrorismusgesetz wurde in den letzten Tagen der Regierung von Dilma Rousseff untergezeichnet.
Wenn die Dinge so polarisiert sind, warum gehen die Leute nicht vermehrt auf die Straße, um Kongress und Agrobusiness zu stoppen?
Paulo Cesar Moreira Santos: Brasilien befindet sich in einem gesellschaftlichen Umbruch. Etwas Positives in diesem Moment ist gerade die Chance der Linken, ihre eigene Geschichte zu bewerten. Entweder macht sie das jetzt, oder sie verliert sich in der Geschichte. Die Selbstkritik ist fundamental. Die Bevölkerung hat keinen wirklichen Zugang zur Information, am ehesten noch über Internet, Whatsapp. Aber sie nimmt wahr, dass die Reformen extremen Schaden, eine völlige Zerstörung anrichten. Es gibt erste Anzeichen mit der Zunahme von Armut und Arbeitslosigkeit. Langsam gehen auch die Nicht-Organisierten auf die Straße.
1) Vor 169 Jahren schrieb ein bärtiger Mann in seinem berühmten Kommunistischen Manifest: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“
2) Bei den asentamentos wird meistens unproduktives, in der Regel staatliches Land besetzt und mit dem Staat über die Nutzung verhandelt. Bei den acampamentos kampieren landlose Bauern und Gemeinschaften oft jahrelang am Straßenrand neben den Flächen im Besitz privater Großgrundbesitzer oder auch des Staates. Sie kämpfen dort für die Landenteignung und Regularisierung zu ihren Gunsten. Neben dem Willen der Regierung, die Anliegen der Landlosen zu unterstützen, sind Organisationsstärke und innerer Zusammenhalt der asentamentos und acampamentos entscheidend für ihren Erfolg.