Wir sprachen mit dem uruguayischen Aktivisten Raúl Zibechi über die Rolle der neuen sozialen Bewegungen in Südamerika. Zibechi war Gast des thematischen Partnertreffens des RLS-Regionalbüros São Paulo«Agrobusiness im Cono Sur – Widerstand und Alternativen», das im August in der paraguayischen Hauptstadt Asunción stattfand.
Von Niklas Franzen*
Du hast gesagt, dass wir uns in “einer interessanten Phase mit dem Aufkommen von neuen sozialen Bewegungen” befinden. Was meinst du damit?
Raúl Zibechi: In den letzten zehn Jahren sind durch die fortschreitende Liberalisierung der Wirtschaft, die zunehmende Bedeutung der Kredit- und Kapitalmärkte und der aufkommenden Immobilienspekulation neue soziale Bewegungen in ganz Lateinamerika entstanden. Diese unterscheiden sich grundlegend von den «alten» sozialen Bewegungen, also den Organisationen, die in den 1980er und 1990er Jahren im Kampf gegen den Neoliberalismus entstanden sind. Viele dieser Gruppen kämpften zuerst für die Demokratisierung ihrer Länder, bevor sie den Kampf gegen Privatisierungen aufnahmen.
Es sind große, gut strukturierte Verbände, die mittlerweile schon seit fast 30 Jahren bestehen. Die neuen sozialen Bewegungen hingegen haben eine weniger feste Struktur und Organisation, besitzen dadurch aber eine hohe Flexibilität. Sie zeichnen sich zudem durch neue Formen des Aktivismus aus. Spontaneität und Kreativität spielen eine große Rolle, ebenso wie die Basisarbeit. Der größte Unterschied ist jedoch, dass diese Bewegungen Träger einer neuen politischen Kultur sind, in der Jugendliche, Frauen und Marginalisierte aus den Vorstädten im Vordergrund stehen.
Wer sind diese Bewegungen genau?
Es sind Organisationen wie die Nulltarif-Bewegung oder die WM-Basiskomitees in Brasilien. In Chile ist es die starke Studierendenbewegung mit einer radikalen Kritik des Bildungssystems, in Argentinien und in Paraguay sind es Bewegungen, die Widerstand gegen das Agrobusiness und Bergbauprojekte leisten. Darüber hinaus sind Veranstaltungen wie der feministische Slutwalk oder die Mobilisierung von LGBT-Gruppen Teil dieser neuen sozialen Bewegungen.
Auch die Bewohner von Armensiedlungen, die in ihrem Alltag Widerstand gegen Ausgrenzung, Rassismus und Polizeigewalt leisten, zähle ich dazu. In der Regel besitzen sie keinen theoretischen Hintergrund. Die meisten Jugendlichen dieser Viertel verstehen sich selbst nicht als politisch. Ihre Integration in die Gesellschaft findet nicht mehr über die Arbeit, sondern über den Konsum statt. Derbaile funk oder die rolezinhos (flashmob-artige Zusammenkünfte von armen Jugendlichen in teuren Kaufhäusern) in Brasilien sind sehr gute Beispiele dafür. Diese sind extrem konsumistisch, kritisieren aber indirekt die Auswirkungen des Kapitalismus. Aus diesem Grund stellen sie auch eine große Gefahr für den Staat dar. Die Politisierung hat sich verändert: Heute ist Hip-Hop wichtiger als Marx.
Bedeutet dies, dass Aktivismus heutzutage keinen theoretischen Hintergrund mehr braucht?
Viele Linke, besonders Intellektuelle, haben eine sehr eigene Sicht auf die Welt. Sie glauben, dass Theorie grundsätzlich vor der Praxis stehen muss. Sie glauben auch, dass man zuerst «Das Kapital» gelesen haben muss, bevor man politisch aktiv werden darf. Jedoch belehrt uns die Geschichte der Klassen eines Besseren. Antônio Conselheiro und seine Krieger im brasilianischen Canudos-Krieg hatten keinerlei linke Ideologie. Es war die Unterschicht, die sich erhoben und gekämpft hat. Genauso ist es fast immer. Menschen kämpfen und suchen sich dann einen theoretischen Apparat, um ihren Widerstand zu rechtfertigen.
Glaubst du, dass die Massenproteste in Brasilien das Scheitern der sogenannten progressiven Regierungen symbolisieren?
Dies ist eine mögliche Erklärung, meiner Meinung nach jedoch nicht die einzige und auch nicht die plausibelste. Die Massenproteste im vergangenen Juni sind eine Seite der Realität. Ich schaue eher auf die kleinen Gruppen und Kollektive, die die Proteste überhaupt erst möglich gemacht haben. Sie sind keineswegs aus dem Nichts entstanden. Die Nulltarif-Bewegung für den kostenlosen Nahverkehr existiert seit 9 Jahren. In Salvador da Bahia wehrten sich bereits vor 11 Jahren Bürger erfolgreich gegen eine Fahrpreiserhöhung. Auch die WM-kritischen Basiskomitees haben sich schon vor den Panamerikanischen Spielen im Jahre 2007 organisiert.
Viele Bewegungen waren also schon vor den sogenannten progressiven Regierungen aktiv. Heute befinden wir uns in einer Zeit, in der sich das kapitalistische Modell verändert, vor allem in den Städten, und damit neue Probleme schafft. Insbesondere die Immobilienspekulation wird immer mehr zum Thema.
Viele der aktuellen Regierungen haben mit ihrer Sozialpolitik wichtige Veränderungen erzielen können. Jedoch war dies lediglich ein erster Schritt und noch lange nicht genug. Die Armen wollen jetzt mehr, nun fordern sie Rechte. Jedoch schafft die Politik dieser Regierungen keine Rechte, sondern lediglich Teilverbesserungen.
Mit ihrem Politikmodell, das sich auf die Förderung der Agrobusiness, Intensivierung des Exports und Sozialprogramme konzentriert, lassen sich keine strukturellen Veränderungen bewirken. Ein Bewohner einer Favela mit einem höheren Lohn als vorher bleibt ein armer Favela-Bewohner. Die größte Niederlage dieser Regierungen ist, dass die gesellschaftliche Ungleichheit fast gleich geblieben ist, obwohl die Armut leicht gesunken ist.
Welche Bedeutung haben die neuen sozialen Bewegungen in Ländern mit rechten, konservativen Regierungen wie Paraguay oder Kolumbien?
Jedes Land ist anders. Paraguay hat eine extrem konservative politische Struktur. Trotz eines wachsenden Aktivismus in den Städten fällt daher die Bildung von wichtigen sozialen Bewegungen sehr schwer. In anderen Ländern wie Kolumbien oder Peru haben sich neue soziale Bewegungen vor allem gegen Bergbauprojekte gegründet. In Kolumbien gibt es darüber hinaus auch urbane und studentische Bewegungen neuen Typs. Jedoch hat der lange Krieg die Gesellschaft eingefroren. In einem so polarisierten und militarisierten Land ist es unheimlich schwer, eine neue politische Kultur zu etablieren.
Die Situation in Argentinien ist bedrohlich. Experten befürchten einen erneuten Staatsbankrott. Glaubst du, dass eine erneute nationale Massenmobilisierung wie im Jahr 2001 möglich ist?
Ja, ich glaube, wenn sich die ökonomische und politische Situation des Landes weiter verschlimmert, werden die Menschen Widerstand leisten und neue Bewegungen werden entstehen. Dieser Prozess hat bereits im Jahre 2010 begonnen, als tausende Wohnungslose den Indoamericano-Park in Buenos Aires besetzten. Argentinien ist insgesamt ein Ort mit einer sehr hohen politischen Aktivität. Ob die neuen Bewegungen allerdings die Massendynamik von 2001 erreichen können, bleibt noch abzuwarten.
Wie sieht die Zukunft der neuen sozialen Bewegungen aus? Können sie mit ihren unkonventionellen Methoden überhaupt überleben?
Das ist schwierig zu sagen. Bei diesen Bewegungen muss man auf die Alltagsebene schauen. Vielen Organisationen wie der Nulltarif-Bewegung ist es geglückt, feste Strukturen zu erschaffen, ohne ihre Spontanität zu verlieren. Die Massenproteste in Brasilien im vergangenen Jahr haben vielen kleinen Gruppen Auftrieb gegeben. Zum ersten Mal ist es dadurch gelungen, Themen wie die alltägliche Polizeigewalt in den Favelas in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. Der gesellschaftliche Aufschrei nach dem Tod von Amarildo (Favela-Bewohner in Rio, der 2013 von Polizisten gefoltert und ermordet wurde) war eine absolute Neuheit.
Wenn es den Bewohnern der Vorstädte gelingt, sich weiterhin auch außerhalb ihrer Viertel als politische Akteure zu konstituieren, werden sie die wichtigsten Akteure der Demokratisierung sein. Die Eliten Brasiliens haben seit jeher große Angst davor. Insgesamt bin ich zuversichtlich, dass es den neuen Bewegungen in der Region gelingen wird, Antworten auf die veränderten Probleme zu finden.
*Niklas Franzen, Journalist und Praktikant beim Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo