Niklas Franzen vom Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo sprach mit João Pedro Stedile über Perspektiven des Widerstandes auf dem Land in Brasilien. Stedile ist Mitbegründer und Chefstratege der Landlosenbewegung MST.
Von Niklas Franzen
Seit zwölf Jahren ist die Arbeiterpartei PT an der Macht. Insbesondere die Amtszeit von Dilma Rousseff hat viele Linke und soziale Bewegungen enttäuscht. Gibt es Hoffnung, dass die nächsten vier Jahre besser werden?
Die Amtszeiten von Lula da Silva und Dilma Rousseff waren Regierungen mit Vertretern veschiedener Klassen. Anstatt sich Problemen zu stellen, wurde versucht verschiedene Gruppen, wie die Banken, die Großindustrie, das Agrobusiness, die Mittelschicht, aber auch Arbeiter, Bauern und die Ärmsten, unter einen Hut zu bringen.
Der jüngste Wahlkampf wurde hart geführt. Unsere Einschätzung ist, dass mit der Politik der Klassenversöhnung nun Schluss sein wird und die Regierung vor einem Scheideweg steht: Entweder positioniert sie sich weiter rechts und beendet damit endgültig den Kontakt mit den sozialen Bewegungen oder sie führt endlich die notwendigen strukturellen Reformen durch. Dafür ist es notwendig, dass diejenigen Bewegungen, die Rousseff in der Stichwahl die Stimme gegeben haben, weiter mobilisieren und Massenproteste organisieren. Nur solche Proteste können die Regierung weiter nach links bewegen.
Das Wahlergebnis war denkbar knapp. Was hätte Brasilien gedroht wenn Aécio Neves (Kandidat der rechtsliberalen PSDB A.d.R.) gewonnen hätte?
Für uns wäre dies eine Katastrophe gewesen und hätte einen Rückschritt zur puren neoliberalen Politik bedeutet. Daher war die Wahl auch eher die Niederlage der Rechten als ein Sieg des Programms der Regierung.
Nicht erst seit den sogenannten Juni-Protesten im vergangenen Jahr, als hunderttausende junge Brasilianer auf die Straße gingen, zeigt sich, dass sich soziale Kämpfe primär in den Städten abspielen. Spielt der Kampf auf dem Land überhaupt noch eine Rolle?
Auf jeden Fall. Unser Kampf hat eine enorme Relevanz, da er sich nicht auf ein Thema beschränkt und lediglich Großgrundbesitz angreift, wie im vergangenen Jahrhundert. Heute richtet sich der Widerstand der Bauern gegen die Art und Weise der kapitalistischen Produktion. Die Probleme, die das Agrobusiness auf dem Land verursachen, sind nämlich auch in der Stadt spürbar. Die Monokulturen zerstören die Biodiversität und tragen damit zu klimatischen Veränderungen bei. Dies verursacht auch in den Städten große Probleme, wie wir gerade mit der Wasserknappheit in São Paulo erleben . Der Einsatz von Pestiziden vergiftet den Boden, das Wasser und die Lebensmittel. Viele Stadtbewohner erleiden dadurch Krebserkrankungen.
Es stimmt, dass sich soziale Kämpfe letztendlich in der Stadt entscheiden werden, denn dort leben 85 Prozent der brasilianischen Bevölkerung. Obwohl die großen Mobilisierungen in urbanen Regionen stattfinden, sind die angesprochenen Themen Reichtumsverteilung, Verdrängung oder Umweltprobleme auf engste mit denen in ländlichen Regionen verbunden.
Vor genau 30 Jahren wurde die MST mit dem Ziel gegründet, eine Agrarreform durchzusetzen. Seitdem ist viel passiert. Auch nach zwölf Jahren PT-Regierung liegt das Ziel in weiter Ferne. Wie kann man sich eine Agrarreform im 21. Jahrhundert vorstellen?
Wenn von Agrarreform gesprochen wird, herrscht oft ein großes Missverständnis. Im allgemeinen Verständnis ist die Agrarreform lediglich der Versuch, Land zu enteignen und den Zugang zu Land zu demokratisieren, wie das in den 1980er Jahre der Fall war. Der Slogan dieser Zeit war: Land für diejenigen, die auf ihm arbeiten. Im 21. Jahrhundert befinden sich der Boden und Naturschätze unter der Kontrolle des Finanzkapitals und großer, internationaler Unternehmen. Das Kapital kontrolliert die Landwirtschaft nicht länger bloß über Großgrundbesitz. Daher muss eine Agrarreform heute ihre Ziele verändern und nicht nur eine Reform für die Bauern sein. Ziel muss es sein sowohl Kooperativen und kleine Betriebe zu fördern, als auch Agrarfirmen wie Nestle oder Parmalat zu demokratisieren und unter die Kontrolle der Arbeiter zu bringen. Die Agrarreform muss zudem die Vision verfolgen, gesunde Lebensmittel für die gesamte Gesellschaft agroökologisch zu produzieren. All dies ist Teil einer neuen Agrarreform, einer populären Reform, die im Prinzip auf eine Reorganisierung der gesamten Produktion abzielt und sich nicht nur auf das Eigentum des Landes konzentriert.
Vor einigen Wochen trafen Sie und weitere Vertreter von sozialen Bewegungen im Vatikan Papst Franziskus. Kann ein religiöses Organ wie der Vorsitzende der konservativen katholischen Kirche überhaupt Ansprechpartner für die Linke sein?
Ich glaube, dass Papst Franziskus für die Linke ein wichtiger Verbündeter sein wird, da er die Probleme des Kapitalismus anklagt und sich nicht auf Veränderungen in der Kirche beschränkt. Zum ersten Mal haben wir einen Papst aus der südlichen Hemisphäre, der die Widersprüche hier kennt. Er ist ein Papst mit politischer Erfahrung, der über 40 Jahre lang im konfliktgeprägten Argentinien gelebt hat. Er hat uns ohne Vorbehalte eingeladen und wir hatten die Möglichkeit mit ihm über von uns gewählte Themen zu diskutieren. Dies hat es noch nie vorher gegeben. Nach dem Treffen hat er eine Stellungnahme mit unseren Anliegen veröffentlicht. Dies ist bereits eine politische Positionierung und wird der katholischen Kirche in unseren Ländern helfen, fortschrittlichere Positionen einzunehmen. Aus diesem Grund werden wir den Dialog mit der Kirche weiterführen. Doch auch unabhängig davon werden wir weiter über die Probleme des Kapitalismus diskutieren. Unsere Idee ist es, in den nächsten Jahren ein Treffen von sozialen Bewegungen aus aller Welt zu organisieren.