Von Niklas Franzen und Gerhard Dilger
Am Sonntagabend war der Jubel groß in Uruguay. Zum einen kam Tabaré Vázquez vom Mitte-links-Bündnis Frente Amplio bei den Präsidentschaftswahlen als stärkster Kandidat auf 47,9 Prozent der Stimmen. Damit muss der 74-Jährige, der bereits zwischen 2005 und 2010 Staatschef war, zwar in die Stichwahl, kann sich jedoch gute Chancen auf eine erneute Amtszeit ausmalen.
Zum anderen scheiterte eine Volksabstimmung, die die rechte Opposition auf den Weg gebracht hatte: Demnach sollte das Strafmündigkeitsalter von 18 auf 16 Jahre gesenkt werden. Von den 2,6 Millionen wahlberechtigten Uruguayer*innen stimmten lediglich 46 Prozent für die Reform.
Konservative Kräfte hatten seit Monaten die Werbetrommel für das Referendum gerührt, nachdem eine «Comisión para Vivir en Paz» im Jahre 2011 über 370.000 Unterschriften gesammelt und damit den Weg für das Plebiszit frei gemacht hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes nutzte die politische Rechte damit die Möglichkeit der direkten Demokratie – in der Vergangenheit waren Volksabstimmungen in Uruguay traditionell Instrument der Linken.
Steigende Kriminalitätsraten, besonders Mord und Überfälle, sind ein Dauerthema in den Medien. Studien zufolge bereitet die gefühlte Unsicherheit im Land den Uruguayer*innen am meisten Sorgen, noch vor bildungspolitischen und ökonomischen Fragen – und das, obwohl Uruguay immer noch das sicherste Land in ganz Lateinamerika ist.
Die Initiative für die Senkung des Strafalters wurde maßgeblich von der Colorado-Partei und ihrem Präsidentschaftskandidaten Pedro Bordaberry ins Leben gerufen. Die Debatte entwickelte sich im Endspurt der Präsidentschaftswahlen auch immer mehr zur parteipolitischen Frage. Auch Luis Lacalle Pou, Spitzenkandidat der konservativen Partido Nacional und Stichwahl-Gegner von Tabaré Vázquez am 30. November, unterstützte die Reform. Die große Mehrheit der Frente-Amplio-Wähler*innen verzichtete hingegen darauf, den Ja-Zettel in den Wahlumschlag zu stecken. «Das ist die beste Nachricht des Tages», erklärte Vizepräsident Danilo Astori.
Zum Sieg trug auch die Casa Bertolt Brecht bei, der wichtigste RLS-Partner in Uruguay. Das ganze Jahr über traf sich die Koordinationsgruppe der «Comisión No a la Baja» im uruguayisch-deutschen Kulturzentrum im Stadtzentrum von Montevideo. Im Lauf der Zeit entstand ein breites Bündnis aus Studierendenorganisationen, Gewerkschaften, Menschenrechtsgruppen, Kirchenverbänden, KünstlerInnen und vielen mehr, das im ganzen Land gegen die Senkung der Strafmündigkeitsalters mobilisierte. Sah es im März noch nach einem Sieg der Hardliner aus, so wendete sich in den folgenden Monaten das Blatt, in Workshops, Veranstaltungen, Theaterstücken oder in den Medien wurde unermüdlich argumentiert und aufgeklärt.
Im September organisierte die Casa Brecht eine sehr gut besuchte Abendveranstaltung in der Aula der staatlichen Universität, zu der der chilenische Strafrechtler Álvaro Castro anreiste. Castro, in den letzten vier Jahren Mitarbeiter des Kriminologen Frieder Dünkel in Greifswald, gab einen Überblick über den Stand der Diskussion in Europa, wo sich ähnliche Initiativen, etwa in Belgien oder Schottland, als kontraproduktiv erwiesen – dort stieg nach einer Senkung der Strafmündigkeit sogar die Jugendkriminalität. Gute Erfahrungen gibt es hingegen aus Deutschland, Österreich oder Holland zu vermelden, wo selbst auf 20- oder 22-Jährige noch das Jugendstrafrecht angewendet werde. «In Europa geht der Trend in die entgegengesetzte Richtungals die Volksabstimmung in Uruguay», fasste Castro zusammen, der in mehreren Medien Montevideos auftrat.
Am 18. Oktober gingen schließlich in Montevideo 50.000 Menschen zum Abschluss der Kampagne auf die Straße, um gegen die Senkung und Kriminalisierung der Jugend zu demonstrieren. Die Kritiker*innen argumentieren, dass die Reform in keiner Weise die Probleme des Landes gelöst und sich die soziale Ungleichheit weiter verschärft hätte. Zudem wären Jugendliche zu Unrecht pauschal als Kriminelle gebrandmarkt worden – 94 Prozent der Verbrechen in Uruguay werden von Erwachsenen verübt.
Studien aus verschiedenen Ländern zeigen, dass die Rückfallquote von straffälligen Jugendlichen, die im Gefängnis landeten, dreimal höher ist als von Jugendlichen, bei denen alternative Strafmaßnahmen angewendet wurden. Das Gefängnis ist sogar oft eine Schule des Verbrechens: In Uruguay sind die Bedingungen in den Gefängnissen verheerend (der Kampf dagegen ist im Übrigen ein Arbeitsschwerpunkt der Menschenrechtsorganisation Serpaj, ein weiterer RLS-Partner).
Wie in anderen lateinamerikanischen Ländern verlassen Häftlinge die Gefängnisse oft krimineller als vorher. «Die Gefängnisse in Uruguay und ganz Lateinamerika sind feindselige, gewalttätige Orte, in denen jeden Tag schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden», sagte der 27-jährige Aktivist Diego Grauer, «die Freiheitsberaubung als Erziehungsmaßnahme hat sich überall als absolut unfähig gezeigt».
Die Reform hätte vor allem die Ärmsten mit aller Härte getroffen. «Das selektive Strafsystem wäre noch vertieft und die ärmsten Jugendlichen wären weiter stigmatisiert worden», sagte Rosana Abella von der Casa Bertolt Brecht, «Alternativen für die soziale Reintegration waren nicht vorgesehen.»
Aktivist*innen fordern die soziale Integration und alternative Strafmaßnahmen für kriminelle Jugendliche sowie stärkere Sozialprogramme gegen Armut. «Es wird immer deutlicher, dass ein Großteil der Kriminalität, die die uruguayische Gesellschaft heute beunruhigt, Folge der sozialen Ungleichheit ist. Deshalb ist eine gerechtere Verteilung des Reichtums notwendig», sagt Diego Grauer.
«Heute haben wir ein goldenes Kapitel unserer Demokratie geschrieben,» erklärte die «Comisión No a la Baja» nach dem Ergebnis des Plebiszits, «nun möchten wir den Jugendlichen in Uruguay Alternativen für ein friedliches Zusammenleben bieten».