„Freihandels“abkommen bedrohen die Ernährungssouveränität in Lateinamerika – Vortrag in Moskau, Mai 2015
Von Gerhard Dilger, RLS São Paulo
Ich möchte mit einigen Schlaglichtern aus Lateinamerika zu unserer Debatte beitragen. Dabei konzentriere ich mich besonders auf die Perspektive, die der internationale Dachverband La Vía Campesina (= Der Weg der Bauern) und seine Mitgliederorganisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern aus Lateinamerika einnehmen. Darunter befinden sich mehrere Partner des RLS-Regionalbüros in São Paulo, das in Brasilien und dem südlichen Südamerika (Argentinien, Uruguay, Paraguay und Chile) arbeitet – der bekannteste von ihnen ist sicher die brasilianische Landlosenbewegung MST.
Die Ernährungssouveränität ist seit 1996 das zentrale Konzept der Vía Campesina, die darunter das Recht aller Völker und Länder versteht, ihre Landwirtschafts- und Ernährungspolitik selbst zu definieren. Es beinhaltet u. a. Landreformen, die Achtung der Rechte der KleinbäuerInnen und LandarbeiterInnen sowie das Menschenrecht auf Nahrung, die Ablehnung des Einsatzes von Gentechnik in der Landwirtschaft durch Monsanto und anderer transnationaler Konzerne und nicht zuletzt den Schutz von Kleinbauern vor billigen Dumping-Importen.
Der so genannte Freihandel steht in Südamerika zwar derzeit nicht oben auf der politischen Tagesordnung. Doch die lateinamerikanischen Kleinbauern haben im April bei ihrer kontinentalen Versammlung in Buenos Aires auf die anhaltende Bedrohung der Ernährungssouveränität durch die Liberalisierungsagenda der USA, der Europäischen Union, aber auch transnationaler Konzerne und der nationalen Eliten des Kontinents hingewiesen.
Die Offensive des Kapitals in vier Phasen
1973-1985: Mit der Beendigung der Währungsordnung von Bretton Woods und der Ölkrise 1973 begann die neoliberale Offensive – in Südamerika sogar noch früher und brutaler als in der industrialisierten Welt. In Chile und in Argentinien wüteten die von Milton Friedman und seinen „Chicago Boys“ beratenen Militärregime, die kanadische Autorin Naomi Klein hat das sehr eindringlich in ihrem Buch The Shock Doctrine beschrieben.
1985-2000: Dies waren die Jahre des Washington Consensus, einer von Weltbank, IWF und dem Finanzkapital betriebenen Agenda, die in ganz Lateinamerika umgesetzt wurde, mal mehr, mal weniger radikal, und nicht nur dort – die folgenden Rezepte werden Ihnen bekannt vorkommen:
Nachfragedrosselung und Kürzung der Staatsausgaben durch Fiskal-, Kredit- und Geldpolitik, Wechselkurskorrekturen und Rationalisierungen, Haushaltskürzungen, Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Einrichtungen bis hin zum totalen Ausverkauf wie in Argentinien, Abbau von Subventionen und natürlich die weitere Liberalisierung der Handelspolitik durch Abbau von Handelsbeschränkungen und -kontrollen, Exportanreize, die Deregulierung von Märkten und Preisen – was oft auch die Abschaffung von Preissubventionen für Grundnahrungsmittel bedeutete.
In Lateinamerika ist die Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA (USA, Kanada, Mexiko) der extremste Ausdruck dieses Projekts, nicht umsonst begannen die Zapatistas in Mexiko ihren Aufstand am 1.1.1994, also dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA, das Subcomandante Marcos damals als die „Todesurkunde der Indigenen Mexikos“ bezeichnete – zur Bilanz von NAFTA kommen wir später.
Bereits 1993 zitierte Noam Chomsky einen hohen US-Manager mit den Worten, das Ziel solche Abkommen sei „ein weltweites Geschäftsklima ohne Behinderung durch Regierungen“ – daran hat sich bis heute nichts geändert.
Auf die neoliberalen Zumutungen der 90er Jahre reagierten in vielen Ländern starke soziale Bewegungen, die die in der lateinamerikanischen Geschichte unerhörte Serie von Wahlsiegen progressiver PolitikerInnen ab 1998 vorbereiteten.
2000-2010 war das Jahrzehnt des historisch einmaligen „Linksrucks“, in Wirklichkeit gewissermaßen eine Sozialdemokratisierung Südamerikas, und zwar ganz im Kontrast zur Entwicklung in Europa.
Hugo Chávez siegte in Venezuela mehrfach, zuerst 1998, Lula da Silva in Brasilien 2002 und 2006, Néstor Kirchner in Argentinien 2003, Tabaré Vázquez in Uruguay 2004 und 2014, Evo Morales in Bolivien 2005, 2009 und 2013, Rafael Correa in Ecuador 2006, 2009 und 2013, Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien 2007 und 2011, Fernando Lugo in Paraguay 2008, Dilma Rousseff in Brasilien 2010 und 2014, José Mujica in Uruguay 2010… Eine gewisse Sonderrolle nahm Chile ein, wo nach dem Ende der Pinochet-Diktatur von 1990 bis 2010 eine Mitte-Links-Koalition dessen neoliberale Politik fortsetzte.
Ein Meilenstein in dieser Entwicklung war der Amerikas-Gipfel im argentinischen Mar del Plata 2005, auf dem Kirchner, Lula und Chávez unter begeisterter Begleitung der sozialen Bewegungen die von den US-Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush betriebene gesamtamerikanische Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (FTAA oder ALCA) begruben.
Kurz zuvor hatte Hugo Chávez den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ausgerufen, wenige später bekam er mit Evo Morales in Bolivien und Rafael Correa Kollegen mit einer ähnlichen, „boliviarianischen“ Rhetorik, das Regionalbündnis Mercosur wurde ergänzt durch ALBA (der von Venezuela angeführten Bolivarianischen Alternative für Amerika), UNASUR, der Gruppe der zwölf südamerikanischen Nationen und CELAC, einem gesamtamerikanischen Staatenbund ohne die USA und Kanada, aber mit Kuba.
Lateinamerika hat heute ein ganz anderes Selbstbewusstsein als vor 20 oder 30 Jahren. Die Rolle des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde deutlich gestärkt, hohe Rohstoffpreise ermöglichten spürbare Erfolge bei der Armutsbekämpfung, Millionen stiegen aus der Armut in eine neue Arbeiterklasse auf.
So geht in etwa das Narrativ der progressiven Regierungen Südamerikas, es ist eine Erfolgsgeschichte, bei der aber die Nuancen, auch die Schattenseiten, bisweilen zu kurz kommen. So verleiteten gerade die hohen Rohstoffpreise die Regierungen Brasiliens, Argentiniens oder Uruguays dazu, in ihrer Wirtschaftspolitik keine Strukturreformen – etwa eine Landreform – in Angriff zu nehmen – in Paraguay war das viel weniger der Fall. In Venezuela, Bolivien und Ecuador gab es zwar Aufsehen erregende Verfassungsreformen, doch in ihrer Umsetzung bleiben sie weit hinter den Hoffnungen zurück.
Agrobusiness und Finanzkapital spielten auch in der vergleichsweise heroischen Aufbruchsphase der Latino-Linken während der Nullerjahre weiterhin die erste Geige, ein anti- oder zumindest postliberaler Diskurs ging mit einer sehr pragmatischen Wirtschaftspolitik und einer staatskapitalistischen Modernisierung einher, die durchaus kompatibel sind mit den nun gemäßigter daherkommenden Rezepten von Weltbank und IWF.
Fortgesetzt hat sich eine so genannte Reprimarisierung der Wirtschaft, ja sie hat sogar noch zugenommen: Von Januar bis August 2014 machten in Brasilien unverarbeitete Rohstoffe wie Soja oder Eisenerz 50,4 Prozent der Exporterlöse aus – der höchste Wert seit 1978.
Das ist neokolonialer Extraktivismus, denn nur wenig hat sich an der Rolle geändert, die Lateinamerika seit Jahrhunderten in der internationalen Arbeitsteilung spielt: die des Rohstofflieferanten. Wegen der besseren Verteilung des Ressourcenreichtums sprechen wir in den progressiv regierten Ländern von Neo-Extraktivismus.
Aber zurück zur Liberalierungsagenda des Nordens, die sich natürlich auch nach dem Scheitern von ALCA eher noch verfeinert hat. Die USA und die EU setzen weiterhin auf asymmetrische bilaterale oder bisweilen multilaterale Abkommen und haben eine ganze Reihe lateinamerikanischer Regierungen dazu bewegt.
Seit 2010 findet weiteren linken Wahlsiegen zum Trotz vielerorts eine konservative Restauration statt: In Paraguay wurde im Juni 2012 der linke Ex-Bischof Fernando Lugo durch einen parlamentarischen Putsch gestürzt, Brasilien hat Präsidentin Dilma Rousseff Anfang 2015 einen waschechten Chicago Boy zum Finanzminister gemacht, in Argentinien wird Cristina Fernández de Kirchner noch in diesem Jahr von einem konservativen Nachfolger beerbt.
Völlig an der lateinamerikanischen Öffentlichkeit vorbei ist die neue Phase der Liberalisierungsagenda in Gang gekommen, mit dem noch nicht unterzeichneten Transpazifischen „Partnerschaft“ TPP (u. a. mit den USA und zwölf lateinamerikanischen Ländern, aber ohne China) und dem Dienstleistungsabkommen TISA. Hier sind mit von der Partie: Mexiko, Kolumbien, Peru, Chile (die vier Staaten der so genannten Pazifik-Allianz), außerdem Costa Rica, Panama sowie die Mercosur-Staaten Paraguay und Uruguay(!).
„Freihandels“abkommen, Dominanz des Agrobusiness, Zerstörung der Ernährungssouveränität: der Fall Mexiko
Die sozialen Verwerfungen durch NAFTA sind mittlerweile gut belegt. Zwischen 1991 und 2000 gingen allein in der mexikanischen Maisproduktion – Mais ist das Grundnahrungsmittel in Mexiko – eine Million Arbeitsplätze verloren, eine weitere Million in weiteren Bereichen der mexikanischen Landwirtschaft.
Schuld sind die subventionierten Agrarimporte aus den USA: Mexiko hat 27 Millionen Hektar Anbaufläche, die USA dagegen 179 Millionen. An Subventionen bekommt ein mexikanischer Bauer 700 Dollar im Jahr, ein US-Farmer 21.000 Dollar. Die landwirtschaftliche Entwicklung Mexikos unter NAFTA war von 1994 bis 2000 mit Dumping aus den USA konfrontiert. Der mexikanische Markt wurde mit hoch subventionierten landwirtschaftlichen Produkten überflutet, auf die drei Millionen kleinen einheimischen Mais-Produzenten wurde enormer Druck ausgeübt.
Auch die Soja-, Weizen-, Baumwolle- und Reis-Importe aus den USA verliefen nach dem gleichen Muster. Der Export von Gemüse und Früchten in die USA hat zugenommen, heute müssen in Mexiko 60 Prozent des konsumierten Weizens und 70 Prozent des Reises importiert werden.
Als 2007 die Lebensmittelpreise weltweit angestiegen waren, hatte das in Mexiko Hungerrevolten zur Folge. Und mit dem Abbau aller Zölle und Einfuhrquoten 2008 – so war es im NAFTA-Gründungsvertrag vorgesehen – war die Abhängigkeit komplett. Millionenfach mussten Bauern ihr Land an Agrarmultis verkaufen und in die Industriegegenden in Nordmexiko migrieren, wo sich Zulieferer-Industrien NAFTA-bedingt rasant ausgeweitet hatte, aber auch in die USA und Kanada.
Pro Stunde importiert Mexiko Nahrungsmittel für 1,5 Millionen Dollar, in der gleichen Zeit wandern 30 mexikanische Bauern in die USA aus. Und die emigrierten mexikanischen Bauern produzieren dann in den USA Lebensmittel für Mexiko – als häufig papierlose Gelegenheitsarbeiter sind sie deutlich günstiger als US-amerikanische Arbeiter.
Innerhalb von 20 Jahren hat sich der Export von mit subventioniertem Soja und Maiserzeugten Rinder-, Geflügel- und Schweinefleisch aus den USA nach Mexiko verfünffacht. In Mexiko wird das Fleisch dann zu Preisen verkauft, die 20 Prozent unter seinen Herstellungskosten liegen. Mexikanische Bauern können unmöglich konkurrieren.
Von den neuen landwirtschaftlichen Strukturen in Mexiko selber profitieren vor allem die großen Betriebe im Norden des Landes, die wiederum häufig US-Konzernen gehören. Insgesamt hat das sich mit NAFTA durchsetzende landwirtschaftliche Modell dazu geführt, dass sich in allen drei Ländern große exportorientierte, marktbeherrschende Agrarkonzerne ausgebreitet haben.
Schließlich gibt es einen Zusammenhang zwischen den zerstörten Lebensgrundlagen der mexikanischen Maisbauern einerseits und dem Aufstieg der Drogenkriminalität andererseits. Vor allem in den Maisanbaugebieten hat der Anbau von Schlafmohn und Marihuana seit NAFTA deutlich zugenommen.
Fazit
„Freihandels“abkommen gefährden unter anderem die Ernährungssouveränität massiv. Sie können nur durch Druck von unten verhindert werden. Ohne starke soziale Bewegungen wäre es nie zum „Linksruck“ in Südamerika, zu einer geopolitischen Umorientierung in Brasilien und schließlich zum Ende von ALCA gekommen. Nun stellen die neoliberale Gegenoffensive und das weitere Erstarken des Agrobusiness die sozialen Bewegungen des Subkontinents vor große Herausforderungen.
Zum Weiterlesen und –hören
Chomsky, Noam, Notes of NAFTA: „The Masters of Man“, The Nation, März 1993
Dilger, Gerhard , Unser Kompass zeigt gen Süden – Fortschritte und Hindernisse auf dem Weg zur regionalen Integration Südamerikas, Le Monde diplomatique, Berlin, April 2011
Eisenmann, Barbara, Freihandelsabkommen oder Blaupause des neoliberalen Investitionsregimes, Deutschlandfunk, November 2014
Bilaterals – dreisprachiges Informationsportal zu „Frei“handelsabkommen