"Für uns liegen die Auswirkungen der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro nicht allein in der Verantwortlichkeit der brasilianischen Politik. Es ist ein Versagen des Olympischen Modells allgemein. Dies zeigt sich auch daran, dass immer weniger Städte die Spiele austragen wollen."
Início » »
«Versagen des Olympischen Modells»
26/07/2016
por
Niklas Franzen

Gespräch mit Julia Bustamante über die Auswirkungen der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro

Interview: Niklas Franzen

csm_bustamante_foto_niklas_franzen_c1a8d800e7
Julia Bustamante

Wir sprachen mit Julia Bustamante vom RLS-Partner PACS (Instituto Políticas Alternativas para o Cone Sul) und dem «Comité Popular Copa e Olimpíadas» (Basiskomitee zur WM und den Olympischen Spielen). Das Komitee ist ein Zusammenschluss von sozialen Bewegungen und linken Organisationen und hat bereits die Fußballweltmeisterschaft der Männer im Jahre 2014 kritisch begleitet.

Am 5. August beginnen die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Wie ist die Stimmung in der Stadt?

Julia Bustamente: Sehr widersprüchlich. Die Menschen erleben die Veränderungen in der Stadt, ohne dabei wirklich den «Olympischen Geist» zu spüren. Die Auswirkungen sind bereits jetzt steigende Preise, mehr Verkehr und eine Zunahme der Gewalt. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind besonders betroffen. So werden zahlreiche Favelas militärisch besetzt gehalten. Es gibt Räumungen, wie zum Beispiel im Fall der Vila Autódromo. Auch die finanzielle Krise des Bundesstaates hat direkte Auswirkungen auf die Menschen, insbesondere Lehrer und Angestellte des öffentlichen Gesundheitssystems. Viele Universitäten sind seit Monaten geschlossen, weil kein Geld da ist. Die Bundesregierung sicherte Rio de Janeiro allerdings kürzlich drei Milliarden Reais (rund 830 Millionen Euros, Anm. d. Red.) zu, um die Olympischen Spiele zu garantieren.

Das politische Establishment spricht von einem positiven Effekt, den die Olympischen Spiele auf die Stadt haben werden. Bürgermeister Eduardo Paes sagte kürzlich, «nie gab es so große Veränderungen für die Armen wie jetzt».

Veränderungen ja, aber nicht zwingend zum Besseren. Wir beobachten, dass die Olympischen Spiele die Ungleichheit in der Stadt vergrößern. Es werden massive Investitionen getätigt, vor allem aber in den reichen Stadtteilen. Die Armen, die in diesen Gebieten zu wohnen, werden vertrieben – direkt und indirekt. Wir sprechen von «weißen Vertreibungen», wenn beispielsweise wie in der Südzone Bewohner nicht direkt geräumt werden, aber die Preise so massiv ansteigen, dass sie nicht dort wohnen bleiben können. Die Gentrifizierung hat längst die Favelas erreicht. Die betroffenen Menschen sind gezwungen, sich in Gebieten anzusiedeln, die immer weiter entfernt vom Zentrum liegen. Damit wurde eine deutlich ungleichere Stadt geschaffen.

Eduardo Paes erklärte hingegen, dass nur die Vila Autódromo als direkte Konsequenz der Olympischen Spiele geräumt wurde.

Das zweifeln wir an. Es hat eine ganze Reihe von Räumungen aufgrund der Bauarbeiten der Schnellstraßen für Busse gegeben. Diese gelten als Teil des Olympischen Vermächtnisses. Daher ist es widersprüchlich die Straßen als Vermächtnis zu zählen, aber nicht die Räumungen, die wegen dem Bau vollzogen wurden. Viele Projekte haben bereits mit den Vorbereitungen für die WM begonnen, andere erst mit Olympia. Für die Bewohner macht dies keinen Unterschied, die Konsequenz ist die Gleiche.

Gerade mit dem Ausbau des Nahverkehrs rühmt sich die Stadtverwaltung. Neben der neuen Schnellbuslinie BRT (Bus Rapid Transit), entsteht derzeit mit der VLT eine hochmoderne Straßenbahn. Noch vor den Spielen soll die U-Bahn-Linie 4 fertig werden.

Obwohl die BRT erst seit kurzer Zeit in Betrieb ist, operiert sie bereits über ihrer Kapazität: Sie ist überfüllt, es gibt Ausfälle. Die BRTs sind nicht dazu geeignet, große Massen zu transportieren. Die VLT legt nur einen sehr kurzen Weg zurück. Zudem benötigen Fahrgäste eine zusätzlich Fahrkarte, weil es kein Transferticket gibt. Menschen aus der Baixada Fluminense (Peripherie von Rio de Janeiro, Anm. d. Red.) brauchen drei Stunden in die Stadt und müssen nun zusätzlich diesen Betrag aufbringen.

Der Ausbau der U-Bahn ist der absurdeste Fall. Die Linie 4 wird von den Unternehmen gebaut, die die Politiker im Wahlkampf am stärksten finanziert haben – so bereichern sich Politik und Bauunternehmen gegenseitig. Die Linie 4 wird Gebiete miteinander verbinden, die sowieso schon privilegiert sind, was den Nahverkehr angeht – nämlich die Südzone und Barra da Tijuca. Der Verkehr sollte da ausgebaut werden, wo die Ärmsten wohnen, zum Beispiel im äußersten Westen der Stadt – dorthin, wo viele der geräumten Menschen umgesiedelt wurden.

Von offizieller Seite wird behauptet, dass der größte Teil der Investitionen für die Olympischen Spiele von privater Hand aufgebracht wurden. Das Basiskomitee veröffentlichte andere Zahlen. Wie ist dies zu erklären?

Bereits während der WM konnten wir aufzeigen, dass öffentliche Gelder für das Megaevent aufgebracht wurden und Bauprojekte durchgeführt wurden, die in keiner Weise den Bedürfnissen der Städte entsprechen. Bestes Beispiel hierfür sind die «weißen Elefanten» (so werden u. a. Sportstätten genannt, die nach einem Megaevent praktisch keine Verwendung mehr haben, Anm. d. Red.). Durch ihre Marketing-Abteilung hat die Stadtverwaltung auch diesmal wieder verlautbaren lassen, dass die Olympischen Spiele vom privaten Sektor finanziert werden. Mit dieser Aussage beziehen sie sich aber vor allem auf die PPPs – die Public-Private-Partnerships.

Ein Beispiel ist der Olympische Park: die Übergabe des Gebietes an die Baufirmen wird in ihrer Rechnung nicht berücksichtigt, weil es keine Ausgabe in Form von Geld ist. So wird ein gigantisches Gebiet, das Hunderte Millionen von Reais wert ist, nicht in die Kosten mit einberechnet. Auch die Entschädigungen, die an Bewohner der Vila Autódromo gezahlt wurden, werden nicht zu den Olympischen Ausgaben gezählt, obwohl die Stadtverwaltung ja eingestanden hat, dass die Räumung eine direkte Folge von Olympia ist.

Außerdem werden Instandhaltungskosten ausgeklammert, die in den kommenden Jahren anfallen werden. Auch wurden bestimmte Ausgaben für Sportstätten einfach nicht erwähnt, wie zum Beispiel der kürzlich fertiggestellte Pavillon 6. Diese Beispiele – und das sind sicherlich nicht alle Fälle – demontieren die Vision, dass die größten Ausgaben von privater Hand getätigt wurden.

Welche Rolle spielt das IOC?

Für uns liegen die Auswirkungen der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro nicht allein in der Verantwortlichkeit der brasilianischen Politik. Es ist ein Versagen des Olympischen Modells allgemein. Dies zeigt sich auch daran, dass immer weniger Städte die Spiele austragen wollen. Das IOC übt starken Druck aus, und die Politiker hier vor Ort haben dies genutzt, um Projekte zu realisieren, die schon seit langem geplant waren. Das Modell des IOC impliziert, dass sich Städte den Megaevents anpassen müssen und nicht umgekehrt. Der sogenannte «Host City Contract» legt den ausrichtenden Städten verschiedene Richtlinien auf.

So wird es beispielsweise ein Olympisches Gesetz geben, ähnlich wie bei der Fußball-WM. Dieses legt unter anderem eine Bannmeile für Straßenverkäufer rund um die Sportstätten fest. Offizielle Produkte werden nur von lizenzierten Verkäufern verkauft werden dürfen. Aber auch andere Gebiete der Stadt werden von dem ausgerufenen «Ausnahmezustand» betroffen sein. Außerdem wurde auf Druck des IOC ein Antiterrorgesetz verabschiedet, dass das Recht auf Protest massiv einzuschränken droht.

Steht die Bevölkerung hinter den Spielen?

Es gibt natürlich in der Stadt eine gewisse Freude darüber, die Spiele auszurichten. Viele Menschen haben allerdings den Eindruck haben, dass sich Rio de Janeiro stark verändert und sie ihre eigene Stadt nicht mehr wiederkennen. Die Unzufriedenheit über die Auswirkungen ist groß. Wer von den Spielen profitiert sind nämlich die großen Bauunternehmen und Immobilienspekulanten – und nicht Bevölkerung.

csm_vila_autodromo_ceab009528
Anwohner*innen leisten Widerstand gegen einen Enteignungsversuch in der Vila Autódromo. Die Polizei reagiert mit Schlagstöcken und Tränengas

Glaubst du, dass die Militarisierung und Polizeigewalt während der Spiele zunehmen wird?

Es werden 100.000 Sicherheitskräfte im Einsatz sein – das ist eine Stadt. Wären die Menschen mit allem zufrieden müsste sicherlich nicht so ein massives Heer aufgefahren werden. Studien von Amnesty International zeigen, dass sich während der WM die Polizeigewalt erhöht hat. Und auch bereits jetzt ist eine Zunahme der Gewalt gegen die ärmsten Gemeinden festzustellen. Wir sprechen hier von einer «militärischen Kontrolle» über diese Territorien und über das Leben der Menschen. Auch dies ist Teil des Vermächtnisses von Olympia.

Welche Auswirkungen könnte das Antiterrorgesetz haben?

Die Strategie des Staates ist eine Politik der Angst. Sie wollen, dass die Leute keinen Mut mehr haben auf die Straße zu gehen und Kritik zu üben. Und viele Menschen trauen sich bereits jetzt nicht mehr an Demonstrationen teilzunehmen. Während der WM wurden zahlreiche Menschen verhaftet, so zum Beispiel Rafael Braga, der immer noch im Gefängnis sitzt. Die Militarisierung der Stadt zielt also nicht nur auf eine Kontrolle der Armen ab, sondern auch auf die sozialen Proteste. Wir müssen uns auf massive Repression einstellen.

Was habt ihr als Basiskomitee geplant?

Zwischen dem 1. und 5. August organisieren wir die Kampagne «Tage des Kampfes gegen die Spiele der Ausgrenzung». Neben einer Großdemonstration am Eröffnungstag der Olympischen Spiele, wird es öffentliche Debatten, Workshops, Konzerte und Filmabende geben. Wir wollen die Auswirkungen dieses Megaevents diskutieren. Wo es zu Unrecht kommt, gibt es zu Widerstand. Viele Menschen äußern sich zwar nicht direkt zu den Olympischen Spielen aber sie protestieren im Alltag gegen ihre Folgen: in den Zügen und Bussen, in den Favelas oder den Besetzungen. All dies sind Ausdrucksformen des Widerstandes.

Welches Vermächtnis werden diese Olympischen Spiele für Rio de Janeiro hinterlassen?

Eine Stadt, die nicht nur teurer sein wird, sondern auch separierter, privatisierter und militarisierter.

Fotos: Privat, Kátia Carvalho