Vom 13. bis 17. März 2018 soll von Salvador da Bahia aus die Botschaft um die Welt gehen: „Widerstand heißt krea­ti­ve Transformation“
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Von Porto Alegre nach Salvador
06/12/2017
por
Gerhard Dilger

In Salvador da Bahia, wo vier Fünftel der Bevölkerung afrikanische Wurzeln haben, wird die Schwarzenbewegung dem Weltsozialforum ihren Stempel aufdrücken

Von Gerhard Dilger, Le Monde diplomatique

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Riesengedränge im Hauptgebäude der Bundesuniversität Bahia: Draußen trägt eine studentische Trauergemeinde Brasiliens öffentliches Bildungswesen zu Grabe, drinnen gibt es afrobrasilianische Trommelwirbel zur Eröffnung eines großen Unikongresses – und zur Begrüßung von altgedienten AktivistInnen sowie von NGO-Kadern aus den USA, Afrika und Europa.

Die gehören dem Internationalen Rat des Weltso­zial­fo­rums (WSF) an und zerbrechen sich anschließend gemeinsam mit lokalen Machern die Köpfe darüber, wie die Generalversammlung der Weltzivilgesellschaft wieder neuen Schwung bekommen könnte. Denn vom 13. bis 17. März 2018 soll von einem nächsten Weltsozialforum in Salvador da Bahia aus die Botschaft um die Welt gehen: „Widerstand heißt krea­ti­ve Transformation.“

In den letzten Jahren hatte sich in der Szene Ernüchterung breitgemacht. Zu den letzten globalen Foren in Tunis (2013, 2015) und Montreal (2016) kamen zwar Zehntausende, doch die mediale Strahlkraft der Anfangsjahre, als etwa die New York Times von der „Supermacht Weltöffentlichkeit“ schwärmte, ist dahin. Zwischen 2001 und 2005 hatte das WSF viermal im südbrasilianischen Porto Alegre stattgefunden, dazwischen (2004) einmal im indischen Mumbai. Zur Premiere kamen 15 000 TeilnehmerInnen, vier Jahre später waren es zehnmal so viele.

Die brasilianischen Foren waren – als geschickt gesetzter Kontrapunkt des Weltwirtschaftsforums in Davos und in Fortsetzung des Aufstands im mexikanischen Chiapas 1994 oder der globalisierungskritischen Proteste gegen den WTO-Gipfel in Seattle 1999 – von der Aufbruchstimmung jener Jahre geprägt. Denn sie wuchsen parallel mit dem politischen Linksruck in Südamerika: In Venezuela wurde Hugo Chávez Präsident, in Brasilien der Exgewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva und in Argentinien der Linksperonist Néstor Kirchner.

Gemeinsam begruben sie 2005 das US-Projekt einer Freihandelszone von Alaska bis Feuerland unter dem großen Jubel der sozialen Bewegungen. Vier Jahre später, auf dem WSF in der brasilianischen Amazonasmetropole Belém, ließen sich neben Lula und Chávez der bolivianische Präsident Evo Morales, Rafael Correa aus Ecuador und Paraguays Staatschef Fernando Lugo feiern. Die lateinamerikanischen Staaten rückten zusammen mit dem Ziel, die Übermacht der USA Schritt für Schritt zurückzudrängen.

Heute scheinen diese Zeiten eine halbe Ewigkeit her. Gemeinsame Ini­tia­tiven ohne die USA gehören der Vergangenheit an. Nur noch in Uruguay und Bolivien regiert die Linke einigermaßen komfortabel. Venezuelas ­„Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ steckt in ­einer dramatischen Krise, 2012 wurde in Pa­raguay Fernando Lugo und 2016 in Brasilien Lulas Nachfolgerin Dilma Rous­seff von reaktionären Parlamentsmehrheiten gestürzt, und bei Wahlen hat die Rechte immer häufiger die Nase vorn.

In Chile sah es lange nach einem Comeback des millionenschweren Unternehmers Sebastián Piñera aus, in Argentinien ist Mauricio Macri, ebenfalls Großunternehmer, gerade dabei, sich langfristig im Präsidentenpalast von Buenos Aires einzurichten. Die Linke steht dort ebenso hilf- und ideen­los da wie im Brasilien des illegitimen, äußerst unpopulären Rousseff-Nachfolgers Michel Temer. Und dabei proklamieren linke Parteien, soziale Bewegungen und ihre Unterstützerorganisationen doch seit Porto Alegre unermüdlich: Es gibt Alternativen!

Zwar haben Südamerikas progressive Regierungen den Rohstoffboom des letzten Jahrzehnts zum Ausbau von Sozialprogrammen genutzt. Die Millionen Menschen, die dadurch der Armut entkommen sind, bilden nun das neue, prekäre Proletariat. Doch strukturelle Reformen hin zu einer sozialökologischen Wirtschaftsweise, die beispielsweise auf Ernährungssouveränität und kleinbäuerliche Landwirtschaft statt primär auf Rohstoffexport und Raubbau an der Natur setzt, blieben aus.

An der enormen sozialen Ungleichheit änderte sich wenig, nicht nur in Brasilien ist der Zugang zu guter Bildung oder zur Gesundheitsversorgung nach wie vor den schmalen Mittel- und Oberschichten vorbehalten. Unterdessen wucherten Vetternwirtschaft und Korruption. Der Unmut über diese Schieflage brach sich in den Massenprotesten vom Juni 20131 Bahn, auf die die Regierung Rousseff hilflos reagierte, während eine neue Rechte es schaffte, daraus – mit tatkräftiger Unterstützung der großen Medien – Kapital zu schlagen und den „parlamentarischen Staatsstreich“ von 2016 vorzubereiten.

Eine selbstkritische Aufarbeitung der Frage, wie es zum Ende dieses „pro­gres­siven Zyklus“ kommen konnte, steht bis heute aus. Stattdessen verbreiten frühere Regierungspolitiker Verschwörungstheorien.

Event oder Widerstand

Statt weiterhin von links unten den Druck auf die Regierungen zu organisieren, ließen sich zahlreiche Gewerkschafter oder Protagonisten sozialer Bewegungen in die Staatsgeschäfte einbinden. Eine Folge des Seitenwechsels war die Schwächung und Entpolitisierung der Basis. In Brasilien gründeten Dissidenten der Arbeiterpartei (PT) schon bald die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), doch deren Einfluss blieb, von regionalen Ausnahmen abgesehen, marginal.

Die heute durch Skandale und Wahlniederlagen gebeutelte PT hatte in den Anfangsjahren des Weltsozialforums eine zentrale Rolle gespielt. Seine Begründer – der israelisch-brasilianische linksliberale Unternehmer Oded Grajew, der befreiungstheologisch inspirierte brasilianische Aktivist Chico Whitaker und der französische Attac-Gründer Bernard Cassen (einst Direktor von Le Monde diplomatique) – haben Porto Alegre als Schauplatz ausgewählt, weil dort das innovative, von PT-Stadtverwaltungen entwickelte Konzept des Bürgerhaushalts angewandt wurde.2 Lula trat hier erst als Präsidentschaftskandidat und 2003 als neu gewählter Staatschef auf, der sich anschickte, die Brücke vom Weltsozialforum zum Weltwirtschaftsforum in Davos zu schlagen.

Die horizontale Struktur des WSF führte zu einem bunten Miteinander oder eher einem Nebeneinander, das Erwartungen an klare Zuspitzungen zwangsläufig enttäuschte. Machtstrategisch denkende Köpfe, die am liebsten eine antikapitalistische Fünfte Internationale geformt hätten, zogen sich aus dem Forum zurück.

Am Rande des letzten WSF im Sommer 2016 taten sich AktivistInnen aus Montreal und Nordostbrasilien zusammen. Ihnen gelang es, das WSF nach Salvador de Bahia zu lotsen – auch weil Bahia einer der letzten PT-regierten Bundesstaaten ist und selbst in Zeiten knapper Kassen ein für Linke weniger feindseliges Umfeld darstellt als der polarisierte Süden oder Südwesten Brasiliens.

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Auf einer Ratssitzung im Januar plädierten Whitaker und Grajew vergeblich dafür, Salvador zu einem von vielen regionalen „Widerstandsforen“ zu erklären. Die große Mehrheit der anwesenden 30 Ratsmitglieder votierte für einen globalen fünftägigen Event. Auch befürchten Kritiker eine Ins­tru­men­talisierung des WSF durch die PT zu Wahlkampfzwecken, denn 2018 werden in Brasilien nicht nur der Präsident, sondern auch die Gouverneure sowie alle Landes- und Bundesparlamente gewählt.

Lula da Silva strebt ein Comeback an. Er führt in allen Umfragen, aber gegen ihn läuft auch ein Korruptionsverfahren. Falls die zweite Instanz das im Juli gegen ihn ergangene Urteil bestätigt, wäre seine Kandidatur abrupt beendet.

„Die lokale PT beginnt eigentlich erst jetzt, sich für das Forum zu interessieren“, versichert Mauri Cruz, bei dem in der Vorbereitungszeit viele Fäden zusammenlaufen. Der Aktivist aus Porto Alegre, der vor 15 Jahren dort Verkehrsdezernent war, ist für ein halbes Jahr nach Salvador gezogen, um nun das Forum vor Ort mit zu organisieren.

Der Gesamtetat bleibt bescheiden. Die knapp 2,5 Millionen Euro sind gerade einmal halb so viel wie ursprünglich angestrebt. „Und selbst da war schon eingerechnet, was uns die Bundesuniversität oder die Landesregierung in Form von erlassenen Mieten oder anderen Hilfen bei der Infrastruktur zur Verfügung stellen“, sagt Cruz, „wir machen das Beste aus dem, was wir haben.“

Da ist es äußerst willkommen, dass Brot für die Welt – anders als frühere Großsponsoren wie staatliche Banken, der halbstaatliche Erdölmulti Petro­bras, Oxfam oder die Ford Foundation – das WSF in der Planungsphase weiterhin unterstützt. „Als Plattform des Austauschs bleibt es für uns wichtig“, meint Francisco Marí, der für das evangelische Hilfswerk als Ratsmitglied nach Salvador gekommen ist, „während der Woche im März werden wir uns mit unseren Projektpartnern wie bei anderen internationalen Events auf gemeinsame Veranstaltungen und die weitere Vernetzung konzentrieren.“ Ähnlich sehen das Leute von Attac, politischen Stiftungen oder der deutschen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Die großen Protestbewegungen der letzten Jahre, ob in der arabischen Welt, in Griechenland, Spanien, Großbritannien oder in den USA, fanden unabhängig von den Weltsozialforen statt. „Stars wie Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders wären hier höchst willkommen“, sagt Mauri Cruz.

Der Dauerstreit zwischen den „Vertikalisten“, die im Namen des Forums verbindliche Vorgaben verabschieden wollten, und den „Horizontalisten“ um Chico Whitaker ist in den Hintergrund getreten. Von der alten Garde der brasilianischen Organisatoren sind nur noch Whitaker und Grajew nach Salvador gekommen, doch den Ton gibt jetzt die nächste, pragmatische Generation um Mauri Cruz an, der im Namen des Netzwerks Abong (Brasilianische Vereinigung von NGOs) für agiert.

In Salvador sollen die Debatten des Gastgeberlands im Mittelpunkt stehen. PT-kritische Kräfte wie die Wohnungslosenbewegung Bahias (MSTB) wollen das WSF nutzen, um für ihre Anliegen zu werben. „Am Genozid an jungen Schwarzen in den Armenvierteln hat sich auch unter der Arbeiterpartei nichts geändert, die Polizei macht, was sie will“, sagt Wagner Moreira von der MSTB und dem neuen linken Debattenbündnis „Vamos“, das sich die junge spanische Partei Podemos zum Vorbild genommen hat.

In Salvador, wo vier Fünftel der Bevölkerung afrikanische Wurzeln haben, werde die Schwarzenbewegung dem WSF ihren Stempel aufdrücken, glaubt der Aktivist mit den langen schwarzen Zöpfchen. Und auch die Indigenen, die gegen Erdölförderung und Staudamm- oder Bergbauprojekte kämpfen, werden sich Gehör verschaffen. Und natürlich hofft er darauf, dass die südamerikanische Linke Bilanz zieht.

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Ob das Weltsozialforum wenigstens die brasilianische Linke aus ihrer Lethargie reißen kann, ist fraglich. „Hoffentlich kann das WSF soziale Kräfte anziehen, die vorher nicht dabei waren, vor allem die Jungen“, meint Fátima Mello, eine Veteranin der brasilianischen NGO-Szene. In den 13 Jahren der Ära Lula/Rousseff wurde eine ganze Generation von AktivistInnen kooptiert. Nun muss wieder beharrliche Bildungs- und Aufbauarbeit an der Basis geleistet werden.

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1 Siehe auch Gerhard Dilger, Kein Wunder in Brasilien, Le Monde diplomatique, Juli 2013

2 Beim Bürger- oder Beteiligungshaushalt in Porto Alegre – der mittlerweile seit Jahren auf Eis liegt – entschieden die Bürgerinnen und Bürger über die Prioritäten städtischer Investitionen in ihrem Stadtteil. Das Mitbestimmungsmodell fand weltweit Nachahmer. Siehe auch Ignacio Ramonet, Warum Porto Alegre, Le Monde diplomatique, Januar 2001

 

Fotos: Weltsozialforum