Von Antonio Martins, Brasilicum
Die politische Lage in Brasilien verändert sich seit der Amtsenthebung von Dilma Rousseff rasant. Die Ausweisung von Gebieten der traditionellen Völker und Gemeinschaften wurde sehr viel schwieriger. Guilherme Boulos von der Wohnungslosenbewegung MTST wurde vorübergehend festgenommen, was aber nur ein weiterer Baustein einer Einschüchterungstaktik gegenüber den Sozialen Bewegungen darstellt. Kurz darauf starb der mit dem Korruptionsskandal Lava Jato betraute Verfassungsrichter Teori Zavascki bei einem Flugzeugabsturz, dessen Ursachen noch nicht geklärt werden konnten. Für Februar war eigentlich die Veröffentlichung von weiteren in den Korruptionsskandal involvierten Namen geplant. Das Verfassungsgericht ist die einzige Institution in Brasilien, die aktiven Parlamentarier*innen den Prozess machen kann.
Nicht nur in Brasilien stehen wir vor einer politisch schwierigen Situation. Auch in Griechenland oder den USA haben progressive Kräfte keine Antworten auf drängende Fragen. Die Wahl von alternativen Parteien scheint für viele nicht der Weg für grundlegende Reformen zu sein, und der bewaffnete Kampf kommt im 21. Jahrhundert auch nicht in Frage.
Wir fühlen, dass viele Menschen die politischen Entwicklungen ähnlich kritisch sehen und an unserer Seite stehen. Allerdings haben wir die Werkzeuge noch nicht gefunden, die diese gemeinsamen Gedanken in eine wirkliche Transformation münden lassen. Wir sind in einem Labyrinth gefangen, aus dem es nur einen Ausweg geben kann, wenn wir gemeinsam die globale Dimension des Problems erfassen.
Bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Labyrinth würde ich gerne drei Fragen stellen:
- Wann und warum sind wir in Brasilien in dieses Labyrinth geraten?
- Wie hat es die Rechte geschafft, die Demokratie so schnell zu zerstören?
- Wie kommen wir aus dem Labyrinth heraus und welche Schnittpunkte gibt es mit anderen sozialen Kämpfen?
Der Einstieg ins Labyrinth
Brasiliens Weg war, im Gegensatz zu Venezuela oder Bolivien, wenig radikal. Die Koalition von Lula und Dilma beinhaltete stets auch konservative Parteien, während die Großkonzerne wie Nestlé, Danone und Volkswagen prächtige Gewinne machten. Die Zustimmungswerte der PT-Regierungen lagen bis 2013 bei sehr guten 79 %. Die Regierung ließ sich nie auf eine Kraftprobe mit den etablierten Eliten ein. Grundlegende politische Reformen, eine Steuerreform, das Aufbrechen der Medienmonopole, urbane Reformen, eine wirkliche Landreform und viele weitere Projekte wurden nicht angegangen. Wie fast alle Nachbarländer behielt die PT-Regierung die große Abhängigkeit von Agrar- und Rohstoffexporten bei.
Trotzdem bedeutete der lulismo zum ersten Mal eine reale Verbesserung für die ärmsten Teile der Bevölkerung. Die Sozialausgaben für Wohnungsbau, Gesundheitssystem und Bildung stiegen von 2002 bis 2015 um 30 %.
Im Angesicht der Weltwirtschaftskrise griff der lulismo nicht zur in Europa verordneten Austeritätspolitik, sondern erhöhte den Mindestlohn, Sozialhilfen und die Renten. Er vergab staatliche Kredite, um die Wirtschaft anzukurbeln, was zu einer Reduzierung der Ungleichheit im Land führte.
Den Wendepunkt für Dilma Rousseff sehe ich im Wahlkampf 2014, den sie äußerst knapp und nur mit einem starken Linksruck in ihrem Diskurs gewann. Allerdings folgte dem Wahlsieg keine Linkswende in der Politik, sondern die Regierung wurde von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament zu einer Austeritätspolitik gedrängt. Die Regierung war bereits stark unter Druck geraten, weil das Andauern der internationalen Finanzkrise und das verhaltene Wachstum in China den Exporteuren die Gewinne wegfraß. Außerdem wurde der PT ein polit-psychologisches Dilemma zum Verhängnis. Wenn sich breite Teile der Bevölkerung nicht mehr um das blanke Überleben kümmern müssen, haben sie ausreichend Ressourcen, um weitere Forderungen zu stellen. Sie stellen fest, dass nicht alle gleich am Aufschwung teilhaben und fordern Verbesserungen, zum Beispiel im Bildungs- und Gesundheitssystem.
Die mit der Austeritätspolitik einhergehende wirtschaftliche Rezession sowie die steigende Arbeitslosigkeit ließen die Zustimmungswerte der Regierung auf nur 10 % fallen.
Die Zerstörung der Demokratie
Der rasante Absturz der PT-Regierung zwischen Wiederwahl und Amtsenthebung kann nur mit der Beschleunigung der politischen Diskurse und der Massenkommunikation der sozialen Medien erklärt werden. Die Menschen fühlten sich von den demokratischen Institutionen nicht mehr repräsentiert.
Lula und auch Dilma Rousseff haben sich nie ernsthaft für eine politische Reform in Brasilien eingesetzt. Die Regierungspartei hat sich eher schnell den korrupten Praktiken angepasst. Politik zu machen ist sehr teuer. Der Wahlkampf 2014 war der teuerste der Geschichte Brasiliens. Allein die beiden Kampagnen von Rousseff und Aécio Neves haben jeweils ca. 170 Millionen Dollar gekostet. Hinzu kommen unzählige Kampagnen für Abgeordnete in den verschiedensten Institutionen auf kommunaler, föderaler und nationaler Ebene. Diese Kosten werden zwar teilweise durch eine staatliche Parteienfinanzierung getragen, aber wer wirklich gewinnen will ist auf private Spenden angewiesen, die es nur sehr selten bedingungslos gibt.
Weil es keine Bereitschaft gab, dieses System zu ändern, musste sich die PT an dem System beteiligen. Die PT war aber mit einem klaren Anti-Korruptionsauftrag an den Start gegangen, und ihre Anhänger*innen verziehen ihr die zahlreichen Skandale deutlich weniger als den anderen Parteien, von denen schon kaum jemand mehr Ehrlichkeit erwartet.
2015 kam es in Brasilien zu einer großen Mobilisierung für die Amtsenthebung von Dilma Rousseff, die dann im Frühjahr 2016 eingeleitet und im August 2016 abgeschlossen wurde. Die Maßnahmen der neuen Regierung unter Michel Temer sind brutal:
- Abbau sozialer Rechte
- Rückzug des Staates aus der Wirtschaft
- Angriff auf die bürgerlichen Rechte, Minderheiten und den Umweltschutz
- Ende der selbstständigen Außenpolitik
Seit dem Amtsantritt der Regierung Temer ist es still geworden um die Korruptionsvorwürfe in der Politik, und das, obwohl Temer in den Odebrecht-Ermittlungen 43 Mal erwähnt wird und zahlreiche von ihm ernannte Minister schon wegen Korruption ihren Hut nehmen mussten. Im Vorfeld der Amtsenthebung schrieben die großen Medien täglich über die Skandale – heute sind sie eher eine Randnotiz, weil die Medienoligopole kein Interesse an der Destabilisierung der Regierung haben.
Der Ausweg aus dem Labyrinth
Brasilien ist in einer sehr außergewöhnlichen politischen Situation, in der es praktisch unmöglich ist Vorhersagen zu treffen. Deshalb möchte ich hier vier mögliche Szenarien skizzieren:
- Verwurzelung des Putsches und Abdriften nach rechts
Der prominenteste Vertreter dieser Richtung ist Jair Bolsonaro vom Partido Social Cristiano, der eine Intervention des Militärs fordert und in den Meinungsumfragen bei 9 % liegt.
2. Konsolidierung des Putsches und Erstarken des Parlamentarismus
Es gibt bei der politischen Rechten keine Persönlichkeit, die es in Umfragen über 11 % schafft. Das zeichnet die Schwäche der politischen Vorschläge aus dem rechten Lager aus. Allerdings verfügen die Konservativen im Parlament und Senat über komfortable Mehrheiten. Sie könnten also durch institutionelle Reformen versuchen, diesen Kammern mehr Kompetenzen zu geben und damit ihre Position zu stärken.
3. Rückkehr zum Lulismo
Lula da Silva ist trotz der massiven Kampagnen gegen ihn noch immer mit Abstand der beliebteste Politiker Brasiliens und führt die Umfragen mit 25 % deutlich vor Marina Silva (15 %) an. Ob aber Lula an den Wahlen teilnehmen kann ist fraglich, weil mehrere juristische Prozesse gegen ihn laufen. Auch die Aussichten in einer möglichen Stichwahl sind schwer vorauszusagen.
4. Der Ausweg aus dem Labyrinth
Die große Herausforderung für uns, die wir uns in der Kritik meist einig sind, ist es, einen konstruktiven Alternativvorschlag zu formulieren. Wie können wir verhindern, dass die oft wiederholte Institutionenkritik zur reinen Rhetorik verkommt?
Wir sollten die Krise der institutionellen Demokratie nicht nur als großes Risiko, sondern auch als Chance wahrnehmen. Wir sollten die enormen technischen Fortschritte dazu nutzen, der Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, sich mit den Problemen eingehend zu beschäftigen und die entsprechenden Schlüsse aus der Analyse zu ziehen. Wir könnten die Krise der repräsentativen Demokratie nutzen, um mehr direkte Demokratie zu wagen und die Bürger*innen über einige Fragen selbst entscheiden zu lassen.
Andere Werkzeuge wie die Wikis ermöglichen es zum Beispiel, gemeinsam an Gesetzesentwürfen zu arbeiten. Das ist eine neue Aufgabe, die auch mit Fehlern einhergehen wird und den Aufbau von Kompetenzen erfordert, aber was ist die Alternative dazu? Das Vertrauen in Repräsentant*innen, die unter einem enormen Lobbyeinfluss stehen?
Eine radikale Lösung würde auch die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums erfordern. In Zeiten, in denen der gesellschaftliche Mehrwert nicht mehr in den Fabriken erzeugt wird, sondern in Kulturveranstaltungen, in der Wissenschaft und im Alltag, ist es notwendig sich über ein bedingungsloses Grundeinkommen Gedanken zu machen.
Angesichts eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, in dem der Mehrwert nicht mehr wie früher generiert wird, kann auch der soziale Kampf nicht wie früher geführt werden.
Wir kennen die Wege noch nicht, die wir gehen werden. Aber wir sind die Erben von Werten, die über Jahrhunderte erstritten wurden und uns inspirieren können, die theoretische Anstrengung auf uns zu nehmen, um an neue Horizonte der sozialen Transformation zu gelangen. Trauen wir uns diese Anstrengung zu? Das scheint die essenzielle Frage zu sein.
*Antonio Martins ist Gründer und Redakteur von Outras Palavras („Andere Worte“) in São Paulo. Der Ende Januar in Deutschland gehaltene Vortrag wurde von Fabian Kern redaktionell bearbeitet
Foto: Antonio Martins/Facebook