Die Ära der Linksperonisten Néstor Kirchner (2003–07) und Cristina Fernández de Kirchner (2007–15) geht zu Ende. Der Sieg Macris ist ein harter Schlag für die «progressiven» Regierungen in der gesamten Region
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Argentinien am Wendepunkt
23/11/2015
por
Gerhard Dilger und Jürgen Vogt

Die Ära der Linksperonisten Néstor Kirchner (2003–07) und Cristina Fernández de Kirchner (2007–15) geht dem Ende entgegen. Der Sieg Macris ist zudem ein harter Schlag für die «progressiven» Regierungen in der gesamten Region.

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Von Gerhard Dilger und Jürgen Vogt, RLS-Standpunkte 21/2015 (vom 19.11.)

Martin Ling (nd) über Macris Sieg

Martin Ling (nd) über den Regierungswechsel in Argentinien

Jürgen Vogt (taz) über die Chance der Linken, sich neu aufzustellen

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Menems Söhne? Titelseite der trotzkistischen Zeitung “La Izquierda Diario” vom 20.11.2015

Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober endete mit einer faustdicken Überraschung: Favorit Scioli verpasste mit 37,1 Prozent nicht nur den in vielen Umfragen vorhergesagten K.-o.-Sieg – über 40 Prozent bei mindestens 10 Punkten Vorsprung auf Macri, der auf 34,2 Prozent kam –, sondern wurde unversehens zum Außenseiter degradiert. Die meisten Stimmen für die übrigen vier KandidatInnen können nämlich auch als Kritik an der Regierungspolitik von Cristina Fernández de Kirchner (CFK) gedeutet werden: Bei einer Wahlbeteiligung von gut 81 Prozent und wenigen Enthaltungen kamen die konservativen Peronisten Sergio Massa und Adolfo Rodríguez Saá auf 21,4 bzw. 1,6 Prozent der «gültigen» Stimmen, der Trotzkist Nicolás del Caño auf 3,2, die Linksliberale Margarita Stolbizer gar nur auf 2,5 Prozent.

«Heute hat sich die politische Landschaft verändert», verkündete ein strahlender Mauricio Macri an jenem Wahlabend. Noch vor vier Jahren hatte es ganz anderes ausgesehen: Damals siegte CFK mit gut 54 Prozent im ersten Wahlgang, dem besten Ergebnis seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1983. Als sie am 10. Dezember 2011 ihre zweite Amtszeit antrat, stand sie im Zenit ihrer Macht und Popularität. 

Zur Menschenrechtsbilanz des kirchnerismo

Néstor Kirchner und seine Frau Cristina haben das Argentinien der 2000er Jahre ebenso wie den südamerikanischen «Linksruck» nachhaltig mitgeprägt. Im Mai 2003, gar nicht so lange nach dem wirtschaftlichen und sozialen Bankrott des Landes um die Jahreswende 2001/02, war Carlos Menem, der schillernde peronistische Staatschef der neoliberalen 1990er Jahre, nicht zur Stichwahl gegen Kirchner angetreten.

Damit begann die Kirchner-Ära so überraschend und unorthodox, wie sie jahrelang weiterging, mit allerhand innen- und außenpolitischen Polarisierungen, Cristinas erstem rauschenden Wahlsieg 2007, dem Tod durch Herzinfarkt des gerade 60-jährigen Néstor 2010[1]und schließlich CFKs Scheitern, einen Nachfolger für ihr linksperonistisches, «national-populäres» Projekt aufzubauen.

Anstatt die Polizei auf Streikende oder StraßenblockiererInnen zu hetzen, wie dies seine Vorgänger getan hatten, ging Néstor auf die rebellische Basis mit Sozialprogrammen zu. Auch wenn ihre unorthodoxe, protektionistische Wirtschaftspolitik seit 2003 quer zum marktwirtschaftlichen Einheitsdenken steht und dementsprechend eine schlechte Presse hat: Heute steht Argentinien sozial und wirtschaftlich bedeutend besser da als vor zwölf Jahren. Zudem haben die Kirchners der Menschenrechtspolitik einen breiten Raum eingeräumt.

Der «Pinguin» aus der patagonischen Provinz Santa Cruz legte sich mit den Gläubigern und dem Internationalen Währungsfonds an, reformierte den Obersten Gerichtshof, wechselte die Armeeführung aus und trieb die Aufarbeitung der Militärdiktatur (1976–83) konsequenter voran als all seine KollegInnen aus den Nachbarländern zusammen. Dabei arbeiteten Exekutive, Legislative und Judikative enger denn je zusammen.

Nicht nur Militärs, sondern auch Justizangestellte, Mitglieder der katholischen Kirche oder UnternehmerInnen wurden vor Gericht gestellt. Auch wenn die Mühlen der Justiz langsam mahlen: Im März 2015, zum 39. Jahrestag des Putsches, waren 136 Diktatur-Prozesse abgeschlossen, ebenso viele eingeleitet. 563 von 613 Angeklagten wurden verurteilt, 52 Prozent waren inhaftiert, 40 Prozent standen unter Hausarrest, 8 Prozent befanden sich auf der Flucht.

Durch extensive Sozialprogramme, eine Rückverstaatlichung der Altersvorsorge und die Erhöhung der Kaufkraft verbesserte sich das Leben von Millionen. Auch die Gesetze über Migration, mentale Gesundheit, die Homoehe, umfassenden Schutz der Frauen oder das umstrittene Mediengesetz von 2009, mit dem sich CFK mit dem mächtigen Clarín-Konzern anlegte, hatten die «Ausweitung von Rechten zur Folge», schreibt Gastón Chillier, der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation CELS,[2] allerdings gebe es Probleme bei der Umsetzung. Und nicht nur das.

Seit 2010 ist zudem ein zunehmend repressives Vorgehen der Polizeikräfte bei sozialen Protesten festzustellen, die Antiterrorgesetzgebung wurde Ende Dezember 2011 klammheimlich verschärft. Eine dringend nötige Polizeireform blieb aus, in Gefängnissen und auf Polizeistationen sind Folterungen an der Tagesordnung, betroffen sind davon ausschließlich die Armen. Trotz mancher Bemühungen leiden die sozial Schwachen unter dem erschwerten Zugang zu Land und Wohnraum. Schließlich werden die Anliegen indigener Völker, die sich gegen Landraub und extraktive Großprojekte wehren, von der Regierung systematisch ignoriert.[3]

Extraktivismus als Konstante

Carlos Menem sagte einmal: «Kirchner hat Glück und Soja.» Tatsächlich zogen die Preise für Öl, Erze, Metalle und Agrarprodukte ab den Jahren 2005 und 2006 kräftig an. Allen voran stieg der Sojapreis jährlich auf immer neue Rekordmarken. Und Argentinien hatte die besten landwirtschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen, um in großem Stil in den Sojaanbau einzusteigen: fruchtbarer Boden, Wasser, massiver Einsatz von Gensaatgut, Pestiziden, Insektiziden und Herbiziden. Direktaussaat wurde zum magischen Begriff: Ohne die Ackerkrume umzubrechen, wird das Saatgut direkt in den Boden gepflanzt. Für eine «saubere» Oberfläche sorgt das Pflanzenvernichtungsmittel Glyphosat.

Heute ist die Anbaufläche für Soja auf rund 22 Millionen Hektar angewachsen und macht damit zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus. Die jährliche Ernte pendelt um die 50-Millionen-Tonnen-Marke. Über 90 Prozent der Ernte gehen in den Export. Dabei schöpft der Staat mit einer 35-prozentigen Exportsteuer, anders als in sämtlichen Nachbarstaaten, kräftig beim Erlös ab.

Ein großer Teil dieser Steuereinnahmen floss in staatliche Subventionen für öffentlichen Transport, Strom, Gas und Wasser, in Sozialprogramme, aber auch in die Förderung des privaten Konsums. Doch seit dem Erreichen des Höhepunkts von knapp über 600 Dollar pro Tonne Sojabohnen im Jahr 2012 ist der Weltmarktpreis nahezu kontinuierlich auf gegenwärtig rund 300 Dollar gefallen. Für den argentinischen Fiskus bedeutet dies einen immensen Einnahmeverlust.

Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Arbeitsplätze durch den großflächigen Einsatz der Direktsaat in der Landwirtschaft weggefallen sind. Die Migration vom Land in die Stadt, genauer gesagt in die Armutsgürtel um die großen Städte herum, wurde auch in der Kirchner-Ära nicht gestoppt. Die sozialen Folgen beschränken sich jedoch nicht nur auf den Verlust von Arbeitsplätzen und Abwanderung.

Das gentechnisch immer weiter modifizierte Saatgut macht die Verschiebung der Anbaugrenzen nach Norden möglich. Landkonflikte haben in den nördlichen Provinzen Santiago del Estero, Chaco, Formosa und Salta zugenommen. Luftaufnahmen zeigen, wie sich die Sojamonokultur in die letzten Urwaldgebiete Argentiniens frisst. Und die gesundheitsschädigenden Auswirkungen dieser industriellen Form der Landwirtschaft sind verheerend.[4] «Hier hat sich eine neue Bourgeoisie herausgebildet, die Ländereien in der Größe zwischen 1.000 und 10.000 Hektar zusammenpachtet und im Verbund mit aggressiven Multis wie Monsanto oder Bayer ein Entwicklungsmodell auf dem Land propagiert, das über die Produktion von commodities Einkommen erwirtschaftet», sagt der Mediziner Medardo Ávila.[5]

Es ist dieser «Rohstoff-Konsens», den die argentinische Soziologin Maristella Svampa für ganz Lateinamerika feststellt,[6] der sich auch im Argentinien der Kirchner-Ära durchgesetzt hat und der sich neben dem Agrobusiness auf alle Bereiche der Ausbeutung natürlicher Ressourcen erstreckt, sei es im Bergbau, bei der Ölförderung, im Fracking oder in der Forstwirtschaft. Nach wie vor fällt Argentinien – wie auch den anderen Staaten Lateinamerikas – in der internationalen Arbeitsteilung die Rolle des Rohstofflieferanten zu.

Sowohl Macri als auch Scioli würden diesen Kurs fortsetzen. Trotz eines skandalösen Zyanid-«Unfalls» in der Provinz San Juan Ende September[7] stand das extraktivistische Wirtschaftsmodell[8] auch im Wahlkampf nicht zur Disposition.

Das autoritäre Erbe des Peronismus

Ohne den Rückgriff auf Juan Domingo Perón (1895–1974), Militär, dreifacher Präsident, Populist und Caudillo mit Gespür für die sozialen Bedürfnisse der Arbeiterklasse, aber auch Sympathisant von Mussolini und Hitler[9], ist das politische System Argentiniens nicht zu verstehen. Die peronistische Partei trägt den offiziellen Namen Partido Justicialista (PJ) – Gerechtigkeitspartei. Seit dem Tod des politischen Übervaters streiten sich die Nachfolger darum, was Peronismus ist.

Die PJ ist keine Partei nach europäischem Muster. Es gilt das vertikale Führungsprinzip, Personen waren schon immer wichtiger als Parteiprogramme. Wer oben steht, wird ausgekungelt, offene Debatten oder Parteitage, auf denen Delegierte das Führungspersonal wählen, sind ihr fremd. Daraus resultieren die verschiedensten politischen Strömungen von links bis rechts mit ihren jeweiligen Anführern, die sich um Einfluss und Macht streiten. Bündnisse werden eingegangen und aufgelöst, Wechsel von einer Strömung zu einer anderen sind an der Tagesordnung.

Was die PeronistInnen vor allem zusammenhält, ist ein ausgeprägter Pragmatismus und der Wille zur Macht. Der Führungsperson, die den Sprung an die Macht schafft, ordnen sich fast alle unter. Dieser strukturelle Autoritarismus macht aber Kontinuitäten mit sanften Übergängen fast unmöglich.

Mit ihrem zweiten Wahlsieg 2011 hatte CFK ihre dominierende Rolle innerhalb des Peronismus unterstrichen. Parteiinternen Widersachern war vorerst der Wind aus den Segeln genommen, auch weil es ihre vorerst letzte Amtszeit sein würde – die Verfassung erlaubt nur eine Wiederwahl in Folge, die für eine Verfassungsänderung nötige Zwei-Drittel-Mehrheit im Kongress sollte bei den Parlamentsteilwahlen 2013 errungen werden.

Doch dieses Vorhaben scheiterte deutlich[10] – vor allem weil sich die innerparteiliche Opposition um ihren ehemaligen Kabinettschef Sergio Massa und dessen «Erneuerungsfront» geschart hatte. In der seit 1987 von Peronisten und derzeit noch von Scioli regierten Provinz Buenos Aires, wo ein Drittel aller Wahlberechtigten leben, kamen sie 2013 aus dem Stand auf 44 Prozent der Stimmen. Zwei Jahre später, am 25. Oktober 2015, verlor in der strategisch wichtigen Provinz der Kirchner-Vertraute Aníbal Fernández gegen María Eugenia Vidal, Macris Stellvertreterin im Bürgermeisteramt der Hauptstadt – ein Menetekel?

Daniel Scioli – ein Peronist für alle Fälle

Als der junge Rennbootfahrer Daniel Scioli bei einem Rennunfall im Dezember 1989 seinen rechten Arm verlor, soll ihn Carlos Menem in der Rehaklinik besucht und gesagt haben: «Daniel, die besten Tage kommen noch.» Menem hatte zweifellos ein Gespür für Talente, die einmal in der Lage sein könnten, Wahlen zu gewinnen. So lockte er noch mehr illustre Gestalten in den Peronismus: den Formel-1-Fahrer Carlos Reutemann (zweifacher Gouverneur der Provinz Santa Fe; 1991–95, 1999–2003) oder den Schlagersänger Pablo «Palito» Ortega (Gouverneur der Provinz Tucumán; 1991–95).

Als mit dem Topmodel Karina Rabolini verheirateter Spitzensportler erlangte Scioli einen enormen Bekanntheitsgrad, der sich bei Wahlen gut nutzen ließ. 1997 kandidierte er erfolgreich für das Abgeordnetenhaus, 2002/03 amtierte er kurzzeitig als Sport- und Tourismusminister.

2003 wurde er vom damaligen peronistischen Staatschef Eduardo Duhalde als Vizekandidat an die Seite Kirchners gestellt. Scioli war dabei für den Stimmenfang im konservativen Peronistenspektrum zuständig. Vizepräsident war er bis 2007, als ihn Kirchner zum Kandidaten für den Gouverneursposten in der Provinz Buenos Aires machte. Auch diese Wahl gewann Scioli mit überzeugenden 49 Prozent der Stimmen; 2011 wurde er sogar mit 55 Prozent wiedergewählt.

Programmatische, gar visionäre Aussagen sind von Daniel Scioli nicht bekannt. Für viele verkörpert er den «gefühlten» Peronismus. Schon seit Jahren genießt er hohe Sympathiewerte und lag in den Umfragen stets deutlich vor all seinen Parteifreunden. Seine Sätze scheinen einem Baukasten entnommen, in dem die gängigsten Redewendungen von Juan Domingo Perón, Carlos Menem, Eduardo Duhalde oder Néstor Kirchner abgelegt sind und je nach Bedarf variiert werden.

Das führt zu Phrasen wie «Wir brauchen ein gerechtes, freies und souveränes Land», «Nationale Souveränität mit ökonomischer Unabhängigkeit, die es erlaubt, die Verteilung des Reichtums besser vorzunehmen», «Für einen Argentinier gibt es nichts Besseres als einen anderen Argentinier». Das geht sehr vielen unter die Haut. Dazu galt Scioli als ziemlich charismatisch..

Sein größter Gegner in den vergangenen Jahren war denn auch nicht Mauricio Macri, sondern – Cristina Fernández de Kirchner. Die Konflikte zwischen den beiden reichen in die 1990er Jahre zurück, als sie als Abgeordnete in der Kommission zur Untersuchung von Geldwäsche tätig waren. Trotzdem hat CFK nun dafür gesorgt, dass Sciolis innerparteiische Rivalen schon vor den Vorwahlen im August ausgebootet wurden, denn auch sie traute nur ihm zu, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen.

Nun, nach dem enttäuschenden Abschneiden in der ersten Runde, selbst in seiner Provinzhochburg, versucht der Peronist mit einem Diskurs der «harten Hand», die möglicherweise entscheidenden Stimmen aus dem Lager der Wähler des noch konservativeren Peronisten-Dissidenten Sergio Massa an sich zu ziehen – und legitimiert zugleich die oben erwähnte Repressionspolitik der vergangenen Jahre.

Mauricio Macri – ein smarter Rechtsausleger

Dem Bürgermeister von Buenos Aires, der neuerdings auch gern Juan Domingo Perón zitiert, ist das Kunststück gelungen, eine neue Mitte-rechts-Allianz aufzubauen, die ihre Stammwählerschaft vor allem in der Ober- und Mittelschicht hat, aber heute auch Teile der unteren Mittel- und Unterschichten anzieht. Für viele verkörpert er jene moderne Rechte, die die demokratischen Spielregeln des Parlamentarismus anerkennt.

Dies ist gerade in Argentinien von großer Bedeutung, da sich die Rechten bislang allzu oft der Militärs bedienten, um ihre Machtstellung zu sichern. Hinzu kommt, dass Macri auf das Vokabular des Neoliberalismus wie Privatisierung, Deregulierung, Weltmarktöffnung oder Anpassung der Staatsausgaben wohlweislich verzichtet, hingegen die Rolle des Staates mit seiner Schutzfunktion für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen betont.

Macris Ansprache ist direkt: «Du schaffst es, wenn du es willst» lautet seine simple Botschaft, jeder sei der Protagonist des eigenen Erfolges. Dass dieses Konzept greift, ist auch dem Neoliberalismus der 1990er Jahre geschuldet, der in Argentinien einen Individualismus verankert hat, den der kirchnerismo paradoxerweise durch seine konsumorientierte Politik zugunsten der breiten Bevölkerungsmehrheit verstärkt hat.

Ein Selfmademan ist der reiche Unternehmersohn jedoch nicht. Sein Vater war 1945 aus Italien nach Argentinien eingewandert. 1973 zählte die Macri-Gruppe bereits sieben Firmen, am Ende der Diktatur 1983 waren es 47, im Jahr 1993 schon 116 Firmen. Zwei Jahre zuvor begann Mauricio Macri in verschiedenen Firmen seines Vaters zu arbeiten. Von 1995 bis 2007 war er Präsident des Fußballclubs Boca Juniors, seither ist er Hauptstadtbürgermeister.

In Buenos Aires ist Macris Partei Propuesta Republicana (PRO) heute eindeutig die stärkste politische Kraft. Landesweit ist sie jedoch nach wie vor nur wenig verankert, gerade im Vergleich zu den Peronisten. Um dieses Manko auszugleichen, gingen PRO und die Radikalen die Allianz «Lasst uns etwas ändern» (Cambiemos) ein.

Wahlkampf-Endspurt und Dilemma der Linken

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Daniel Scioli (l.) und Maurico Macri nach der TV-Debatte

Auch wenn Macri aus dem TV-Duell eine Woche vor der Stichwahl – einem Novum in Argentinien – als Punktsieger hervorging: Entschieden wird erst am Wahlsonntag, und die ArgentinierInnen sind immer für eine Überraschung gut. Die mediale Polarisierung in Fernsehen, Radio oder auch den tonangebenden Printmedien, etwa zwischen regierungsnahen Zeitungen wie Página 12 und unternehmerfreundlichen Blättern wie Clarín oder La Nación, spiegelt nicht unbedingt die Stimmung in der Bevölkerung wider, wo eine starke Abneigung gegen die gesamte, als korrupt geltende Politikerkaste dominiert.

Daniel Scioli versucht den Spagat: Während er einerseits – ähnlich wie vor einem Jahr Dilma Rousseff in Brasilien[11] – auf einen Diskurs der Angst setzt («Macri steht für Strukturanpassung, Peso-Abwertung, Arbeitslosigkeit»), geht er andererseits mit Blick auf die Massa-WählerInnen wieder mehr auf Distanz zur Präsidentin, die zuletzt nicht mehr auf seinen Plakaten auftauchte, auch gemeinsame Auftritte gibt es nicht mehr. Unterdessen geriert sich Mauricio Macri weiterhin als gelassener, sanfter Modernisierer und bleibt bis hin zu seinem Schattenkabinett im Ungefähren.

Vor allem linke WählerInnen und die zahlreichen AktivistInnen aus den sozialen Bewegungen, denen beide Kandidaten viel zu ähnlich und gleichermaßen zuwider sind, stehen vor einem Dilemma: Sollen sie ihre Stimme «ungültig» machen (wörtlich und besser: «weiß wählen») und damit möglicherweise dazu beitragen, dem «größeren Übel» Macri zum Sieg zu verhelfen? Der trotzkistische Kandidat del Caño hat zum «weißen Votum» aufgerufen, und auch der linke Ökonom Claudio Katz befürwortet es als «Widerstandsbotschaft gegen den Sparkurs, den beide Kandidaten vorbereiten». Ein konservativ agierender Scioli könne ebenso wie Rousseff in Brasilien Resignation und Apathie bei der Basis verbreiten, warnt er.[12]

Eine solche Position sei sektiererisch, finden die linken, nicht peronistischen Scioli-VerteidigerInnen, die sich vom Prinzip Hoffnung leiten lassen: «Ganz wenige linke Organisationen werden sich dazu aufraffen, für Scioli zu werben oder gegen Macri, aber wenigstens sollten sie nicht zum ‹Weißwählen› aufrufen, ihren Mitgliedern also die Handlungsfreiheit überlassen, ohne ihnen dabei zu vermitteln, dass eine Stimme für Scioli einem Verrat an der Revolution gleichkommt.»[13]

Ende des «progressiven Zyklus» in Südamerika?

Am überzeugendsten ist der Diskurs der kirchneristas, wenn er die zwei deutlich unterschiedlichen Projekte in der Außen- und Geopolitik benennt, doch wahlentscheidend dürfte er kaum sein. Macri hat aus seinen Sympathien für die kontinentale Rechte vom eher «zentristischen» Henrique Capriles in Venezuela bis hin zu Kolumbiens Hardliner Álvaro Uribe nie einen Hehl gemacht, ohne aber gleich wie Carlos Menem in den 1990er Jahren von «intimen Beziehungen» mit den USA zu fabulieren. Zweifellos ist Macri der Wunschkandidat des westlichen Mainstreams und der Finanzmärkte.

Scioli hingegen holte sich während des Wahlkampfs Schützenhilfe von linken Ikonen wie Evo Morales, Lula da Silva oder José «Pepe» Mujica, die wie auch CFK und immer noch selbstbewusst die Eigenständigkeit der Region gegenüber den USA proklamierenDoch die heroische Aufbruchsphase der rosaroten Welle, die vor zehn Jahren im argentinischen Mar del Plata in das «Begräbnis» der von Washington propagierten gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA mündete, ist schon lange passé, die «progressiven» Regierungen sind pragmatischer denn je zuvor.So dürfte der kommende argentinische Präsident, wie immer er auch heißen mag, jene Intellektuellen wie den Uruguayer Raúl Zibechi bestärken, die schon länger ein «Ende des progressiven Zyklus» in Südamerika diagnostizieren: «Überflüssig zu betonen, dass dieses Ende des Zyklus für die Basissektoren und für Linke katastrophal ist. Es erfüllt uns mit Ungewissheit und Beklemmung angesichts der unmittelbaren Zukunft wegen des rechten, repressiven Zuschnitts, dem wir uns entgegenstellen müssen.»[14]

An anderer Stelle schreibt Zibechi: «Aus linker Warte dreht sich die Politik um die Fähigkeit der Basissektoren, sich zu reorganisieren und zu mobilisieren, um die wirtschaftliche und politische Macht zu schwächen und so die Möglichkeiten für Veränderung zu schaffen. (…) Das Problem ist es jetzt, wie man mit entpolitisierten und unorganisierten Gesellschaften der rechten Offensive Paroli bieten kann, denn die Linke hat die soziale Energie, die während der Diktaturen angehäuft wurde, verschleudert.»[15]

 

 

[1] Dilger, Gerhard: Der verkannte Held. Gewiefter Redner und Stratege – Der verstorbene argentinische Expräsident Néstor Kirchner war eine Schlüsselfigur im Gefüge der südamerikanischen Linken, taz, 1.11.2010, unter: www.taz.de/1/archiv/?dig=2010/11/01/a0108.

[2] Chillier, Gastón: Los avances y las reformas pendientes, Oktober 2015, unter: www.perfil.com/elobservador/Los-avances-y-las-reformas-pendientes-20151026-0270.html.

[3] Vgl. die Karte von Amnesty International Argentinien unter: www.territorioindigena.com.ar;  Aranda, Darío: Argentina Originaria, erw. Neuauflage, Buenos Aires 2015.

[4] Vgl. Vogt, Jürgen: Glyphosat in Argentinien. Tödlicher Sprühregen, unter: https://rosalux.org.br/de/toedlicher-spruehregen/; Ludermann, Bernd: Missbildungen durch Glyphosat, unter, http://www.welt-sichten.org/artikel/30858/missbildungen-durch-glyphosat-argentinien.

[5] Interview mit Jürgen Vogt.

[6] Vgl. Svampa, Maristella: The «Commodities Consensus» and Valuation Languages in Latin America, 2015 [Original 2012], unter: www.alternautas.net/blog/2015/4/22/the-commodities-consensus-and-valuation-languages-in-latin-america-1.

[7] Vgl. Eglau, Victoria: Megabergbau im Kreuzfeuer, Oktober 2015, unter: https://rosalux.org.br/de/schwerer-zyanid-unfall-stellt-mega-bergbau-infrage/.

[8] Das Standardwerk hierzu: Svampa, Maristella/Viale, Enrique: Maldesarrollo. La Argentina del extractivismo y del despojo, Buenos Aires 2014.

[9] Vgl. Goñi, Uki: Odessa: Die wahre Geschichte – Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Hamburg 2006.

[10] Vgl. Gambina, Julio C.: Viele Ungewissheiten. Zur Situation in Argentinien nach den Parlamentswahlen, Standpunkte international 14/2013, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2013, unter: www.rosalux.de/publication/40046/viele-ungewissheiten.html.

[11] Vgl. Dilger, Gerhard: Stichwahl in Brasilien. Schafft es Dilma doch noch? Standpunkte 20/2014, hrsg. von der: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2014, unter: www.rosalux.de/publication/40860/schafft-es-dilma-doch-noch.html.

[12] Katz, Claudio: La izquierda frente al balotaje, November 2015, unter: http://katz.lahaine.org/?p=262.

[13] Azcurra, Martín: Balotaje: la izquierda ante una duda histórica, November 2015, unter: www.marcha.org.ar/balotaje-la-izquierda-ante-una-duda-historica.

[14] Ein guter Überblick über diese Debatte findet sich bei Gaudichaud, Franck: ¿Fin de ciclo? La crisis de los «progresismos» gubernamentales, November 2015, unter: https://rosalux.org.br/es/fin-de-ciclo/.

[15] Zibechi, Raul, Taking stock of «Progresismo», September 2015, unter: https://www.opendemocracy.net/democraciaabierta/ra%C3%BAl-zibechi/taking-stock-of-%E2%80%98progresismo%E2%80%99.

Foto: almagrotubarrio