Solidarische Ökonomie in Brasilien

„Auf die vom Markt vergessene Bevölkerung setzen“

von Christian Russau, taz

 

Im September 2015 findet in Berlin der Kongreß Solidarische Ökonomie 2015: www.solikon2015.org statt. Unter den Gästen wird auch Rosângela Alves de Oliveira vom Brasilianischen Forum für Solidarische Ökonomie sein. Hier ein Interview mit ihr über den Aufbau und die Förderung Solidarischer Ökonomie in Brasilien.

Das Interview führten Katrin Wiemer, Clarita Müller-Plantenberg und Gerald Hoffmann-Mittermaier, Übersetzung: Christian Russau. Eine gekürzte Version erscheint in der Juni-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten.

Rosângela Alves de Oliveira vom Brasilianischen Forum für Solidarische Ökonomie. Photo: privatProf. Dr. Rosângela Alves de Oliveira ist Professorin an der Föderalen Universität von Rio Grande do Norte in Natal (UFRN), sie nahm am Aufbau des Brasilianischen Forums der Solidarischen Ökonomie teil, arbeitete in der Caritas mit der Gründungsberatung Solidarischer Wirtschaftsunternehmen, und war Mitgründerin des Gründungsberatungszentrums der Universität von João Pessoa. Sie berichtet im September 2015 auf dem Kongress Solidarische Ökonomie 2015 hierüber. Mehr Info: www.solikon2015.org

 

Frage: Wie steht es im Moment für die sozialen Bewegungen in Brasilien und den Aufbau und die Förderung Solidarischer Ökonomie?
Rosângela Alves de Oliveira: In den letzten Monaten wurden die sozialen Basisbewegungen in Brasilien durch eine konservative Welle, ausgelöst von der brasilianischen Elite, stark unter Druck gesetzt: Die Elite organisierte sich als elitäre soziale Bewegung, die auf die Straßen ging. Zeitgleich erleben wir ein Rückweichen der Regierung, die mehr und mehr eine neoliberale Agenda verfolgt. Das alles stellt für die sozialen Basisbewegungen eine neue Herausforderung dar. Für uns als Bewegung der Solidarischen Ökonomie bedeutet das, dass wir neue Wege finden müssen, dies auch im Hinblick auf den gesellschaftlich größeren Kampf, in dem wir uns befinden. Eine der großen Hoffnungen ist da die Stärkung der Jugendbewegungen. Im Bundesstaat Rio Grande do Norte beispielsweise hat das Brasilianische Forum für Solidarische Ökonomie FBES gezielt daran mitgewirkt, die Jugendlichen stärker zu organisieren, indem die brasilienweit erste Jugendkonferenz zu Solidarischer Ökonomie im März  2014 durchgeführt wurde[1]. Das Thema war „Jugendliche konstruieren den Nationalen Plan Solidarischer Ökonomie“.  Dort kam die Jugend aus verschiedenen Unternehmen, Territorien, sozialen Bewegungen, Universitäten und Organisationen zusammen.[2]

Sie betonen die Bedeutung von Jugendlichen. Welche Rolle spielen die Schulen für die Bewegungen der Solidarischen Ökonomie und gibt es, falls vorhanden, eine solidarökonomische Bildung von Schülern? Wie hat das angefangen?
Die Jugendbildung in Solidarischer Ökonomie ist eine Querschnittsaufgabe des Brasilianischen Forums für Solidarische Ökonomie, das als politisch aktives Netzwerk die Bewegungen Solidarischer Ökonomie in Brasilien vereint. Auf der schulischen Ebene gibt es ein landesweites Bildungsprogramm in Solidarischer Ökonomie, das vom Bundessekretariat für Solidarische Ökonomie SENAE, das beim Arbeitsministerium angesiedelt ist, unterstützt und vom Bildungszentrum für Solidarökonomie CFES durchgeführt wird. In dieser Einrichtung für die Schulen sind hunderte von Erziehern und verschiedene Institutionen zusammengeschlossen. Der Fokus zielt auf die Stärkung des Netzwerks von Erziehern im Bereich Solidarischer Ökonomie vor allem in Fragen politischer Bildung und fachlicher Weiterbildung. In den Schulen selbst gibt es erste Erfahrungen und Versuche mit dem Bildungsministerium im Rahmen des Programms Ausbildung von Jugendlichen und Erwachsenen (EJA).

Wie sind Sie zum Brasilianischen Forum für Solidarische Ökonomie gekommen?
Mein Engagement für und in der Solidarischen Ökonomie fing mit meiner Arbeit bei der Caritas Brasilien im Jahr 1988 an. So kam es, dass ich sowohl bei der Gründung des Brasilianischen Forums für Solidarische Ökonomie 2002-2003 als auch bei der Schaffung des Sekretariats für Solidarökonomie dabei war. Zudem war ich aktiv beteiligt an  mehreren Inkubationsprozessen[3] verschiedenster Vorhaben solidarischer Ökonomie, zeitgleich aber auch an der Gestaltung und Ausarbeitung einer Politik der öffentlichen Hand in diesem Bereich. Im Lauf der Jahre war ich bei verschiedensten Bildungsinitiativen und zur Zeit bin ich in der Koordination des Inkubations-Netzwerks für Solidarische Ökonomie in den Universitäten tätig, zuständig bin ich für Region des brasilianischen Nordosten.

Wie kam es zu der Inkubationsarbeit bei der Caritas, hat diese Arbeit den Armen in João Pessoa langfristig geholfen oder waren es nur momentane Erfolge?
Caritas Brasilien hatte eine sehr bedeutsame Rolle für die Bewegung Solidarischer Ökonomie in Brasilien. Caritas ist eine Institution, die von der Bewegung legitimiert ist, nicht nur, weil es die erste Institution war, die bereits im Jahre 1970 in Richtung Solidarischer Ökonomie arbeitete, damals war es das Projekt Kommunitäre Alternativprojekte (Projetos Alternativos Comunitários), sondern vor allem, weil die Caritas in die ärmeren und entferntesten Gegenden ging und dort auf die vom Markt vergessene Bevölkerung setzte. Vor kurzem hatte sich die Caritas Brasilien um die Ausschreibung zur landesweiten Koordinierung des Bildungszentrums für Solidarökonomie CFES beworben und den Zuschlag erhalten.

Sie sind Mitglied des Potiguar-Rates, wie ist er zusammengesetzt, was sind seine Aufgaben?
Der Rat des Bundesstaates Rio Grande do Norte für Solidarische Ökonomie (CEEPS/RN)[4] wurde über das bundesstaatliche Gesetz 8.798/2006 geschaffen. Er besteht aus 12 Mitgliedern und 12 Nachrückern. Sechs sind Regierungsvertreter und sechs Vertreter von gesellschaftlichen Einrichtungen, die mit der staatlichen Politik der Solidarischen Ökonomie zu tun haben; Die Vertreter der Zivilgesellschaft sind: ein Vertreter von Hochschulen in Rio Grande do Norte (zur Zeit frei, ich bin die zuständige Beraterin), ein Vertreter der Institutionen zur Förderung der Solidarischen Ökonomie und vier Vertreter der Solidarischen Wirtschaftsunternehmen. Diese Repräsentanten brauchen eine Zustimmung des Fórum Potiguar, um sich für die Ratsmitgliedschaft zu bewerben. Dabei geht es darum zu garantieren, dass diese Person als Repräsentant legitimiert ist und zu vermeiden, dass eine Einrichtung, die nicht zu der Bewegung gehört, ein Ratsmitglied stellt. Die Mitglieder des CEEPS/ RN werden von dem Gouverneur des Bundesstaates für ein zweijähriges Mandat ernannt, wobei eine Wiederwahl für denselben Zeitraum erlaubt ist.
Auf der Grundlage des bundesstaatlichen Gesetzes 8.798/2006 fallen u.a. folgende Aufgaben in die Zuständigkeit des Bundesstaatlichen Rates für Solidarische Ökonomie in Rio Grande do Norte – CEEPS/RN:
I. Definition der Mechanismen, um den Zugang zu den Unternehmen der Solidarischen Ökonomie und zu den bundesstaatlichen öffentlichen Dienstleistungen zu erleichtern;
II. Suche nach institutionellen Garantien damit die Solidarischen Wirtschafts-unternehmen an öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen können;
III. Vorschlagen von Mechanismen staatlicher Anreize, für die Solidarischen Wirtschafts-unternehmen;
IV. Entwicklung von Mechanismen und Formen des leichteren Zugangs zu öffentlichen Mitteln für Solidarische Wirtschaftsunternehmen;
V. Vorschlag für bundesstaatliche Gesetzesänderungen in Bezug auf die Solidarische Ökonomie.

Welche Hilfe bekommen Ihre Projekte von staatlichen Stellen?
Es gibt öffentliche Programme und Projekte, die die Arbeiter in der Solidarischen Ökonomie unterstützen. Klar, weit entfernt von den Mitteln, die das Agrobusiness und das Kapital bekommen. Aber es ist möglich, Mittel zu bekommen vom Nationalsekretariat für Frauen, vom Jugend- und Bildungsministerium, vom Ministerium für kleinbäuerliche Landwirtschaft[5], vom Sekretariat für Solidarische Ökonomie… Ein herausragendes Beispiel ist das landesweite Programm für Schulspeisung (PNAE), das sich an Kindergärten, Vorschüler und Grundschüler richtet, ebenso an Schuleinrichtungen der indigenen oder Quilombola-Bildung oder auch an Sonderschulen. Dabei geht es um etwas sehr Wichtiges: Ernährung durch hochwertige Lebensmittel. Das stärkt die lokale Wirtschaft  und zwingt  die Munizipien, 30 Prozent des Essens von der kleinbäuerlichen  Landwirtschaft zu kaufen. Zudem gelang es auf diese Weise, die Einsetzung von Ernährungsräten auf Munizip-Ebene in Zusammenarbeit von Regierung und Zivilgesellschaft so durchzusetzen, dass es zu Beschlussfassungen mit Kontrolle durch die Zivilgesellschaft kommt. Außerdem obliegt den Schulen selbst die Entscheidung über den Speiseplan und sie können ohne großen bürokratischen Aufwand die Lebensmittel direkt von den Kleinproduzenten kaufen.

Welche Bedeutung haben die Räte auf kommunaler Ebene?
Diese Räte sind eine Errungenschaft der brasilianischen Zivilgesellschaft, die sie in ihrer Verfassung  von 1988 verankert hat. In den 1990er Jahren lag die politische Partizipation der Bevölkerung nahezu brach, aber in den letzten zwölf Jahren ist da viel passiert. Diese Räte sind ein tolles Instrument. So sehen es Regierung und Zivilgesellschaft. Die Bevölkerung kann auf munizipaler, Landes- oder Bundesebene Vorschläge für Politiken der Öffentlichen Hand machen, dies geschieht auf den Konferenzen und ermöglicht die Kontrolle und den Einfluss der Gesellschaft auf die verschiedenen Räte. Die Herausforderung dabei ist die Qualität der gesellschaftlichen Partizipation. Den Ratsmitgliedern mangelt es zum einen an regelmäßiger Fortbildung und andererseits müssen sie sich immer ihrer Machtposition qua Ratsmitgliedschaft bewusst bleiben. Im Falle des Rates für Solidarische Ökonomie gab es – bislang zumindest – nicht viel Streit und er ist sehr wichtig für die Aufwertung und Anerkennung der Solidarischen Ökonomie als Aufgabe der Öffentlichen Hand.

Wie werden die Gründungsberatungen von Ihrer Universität durchgeführt?
Das Ziel der universitären Arbeit in der Region ist es, das soziale Engagement der Föderalen Universität von Rio Grande do Norte bei Aktionen zu stärken, die den Dialog und Austausch von Wissen zwischen der akademischen Gemeinschaft und der Gesellschaft von Rio Grande do Norde intensivieren. Die Absicht ist die soziale Realität der teilnehmenden Gemeinschaften zu problematisieren.
Die Inkubations-Methode geht von den Werten und Prinzipien der Solidarischen Ökonomie und von der Bildungsarbeit (Paulo Freire) aus und verwendet die Aktionsforschung. Diese Methode steht im Einklang mit dem Inkubationskonzept der Aktionen des Inkubatoren-Netzwerkes von ca. 40 Universitäten (ITCP).

Die Agrarindustrie in Brasilien ist mächtig und mit viel Kapital ausgestattet. Wie haben Sie es geschafft, dennoch agrarökologische Regionalmärkte zu etablieren? Für Paraiba spricht man gar von einer ganzheitlichen Strategie – Ökologie und Solidarische Ökonomie. Wie ist das entstanden? Durch wen?
In Brasilien gibt es das Nationale Netzwerk für Agrarökologie. Die Idee und Strategie hin zu einer ländlichen Entwicklung auf agrarökologischer Basis, das ist schon jetzt Teil der sozialen Bewegungen auf dem Land. Da gibt es schon viele gute Beispiele. Die ökolandwirtschaftlichen Wochenmärkte der Solidarischen Ökonomie sind eine kollektive Errungenschaft des gemeinsamen Arbeitens und Vermarktens unter Bedingungen der Selbstverwaltung. Darüber wird versucht, die Produzenten mit den Konsumenten zusammen zu bringen. Die Investition in die Produktion erfolgt direkt durch die Bewegung der Arbeiter selbst – und sie wenden dabei in den unterschiedlichen Situationen in den verschiedenen Regionen lokal angepasste Strategien und Techniken an. Finanzielle Unterstützungen kommen dabei dann vor allem aus öffentlichen Mitteln zur Förderung der kleinbäuerlichen  Landwirtschaft. Und diese Idee eines agrarökologischen und solidarischen Wochenmarktes ist dabei sehr erfolgreich: Im Fall von Paraíba zum Beispiel, da wurde der erste dieser Wochenmärkte im Jahr 2001 eingerichtet, das war etwas komplett Neues für Paraíba – und mittlerweile organisieren sich die Arbeiter selbst in einem Netzwerk von dreizehn Zusammenschlüssen agrarökologischer und solidarischer Wochenmärkte im ganzen Bundesstaat Paraíba!

Endnoten:
[1] 1a Conferência Temática Livre de Juventude e Economía Solidária do Rio Grande do Norte in Caicó.
[2] Es waren 48 Personen, 30 Frauen und 18 Männer von 26 Organsationen aus 19 Munizipien.
[3] Prozess der Herausbildung und Entwicklung; Die Incubadoras sind interdisziplinäre Arbeitsgruppen an brasilianischen Hochschulen, die interessierte Gruppen von Erwerbslosen bei der Gründung von Gemeinschaftsbetrieben beraten und begleiten.
[4] Economía Popular Solidária
[5] Ministério de Desenvolvimiento Agrário

Das Interview führten Katrin Wiemer, Clarita Müller-Plantenberg und Gerald Hoffmann-Mittermaier, Übersetzung: Christian Russau.

 

Terminhinweise:

Kongreß Solidarische Ökonomie 2015: www.solikon2015.org

TU – Technische Universität; Straße des 17. Juni Nr. 136
11.September 9-10:30 Uhr
Workshop: Können wir etwas gegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung tun?
Ja – wir können vom Süden lernen: z.B. von Caritas Brasilien
Pioniere beim Aufbau von solidarischen Initiativen und Wirtschaftsunternehmen

Im Workshop können wir von Rosangela Alves de Oliveira lernen, wie die Gründungsberatung (Inkubation) von solidarischen Wirtschaftsunternehmen durch die Caritas Brasilien durchgeführt wurde. Sie hat unter Arbeitslosen und Unterbeschäftigten nach der Methode Paulo Freires Gruppen auf Augenhöhe beraten, die erkannten, dass sie selbstverwaltet eine wirtschaftliche Aktivität in ihrer Gemeinschaft aufnehmen könnten.

11. September 2015 18:30 Uhr
Podium: Aus dem Globalen Süden Lernen
Thema für das Podium ist die Bewegung der Solidarischen Ökonomie in Brasilien. In Brasilien geht der Aufbau Solidarischer Ökonomie aus vom Forum Solidarische Ökonomie, sowie von den geforderten politischen Rahmenbedingungen über das Nationale Sekretariat für Solidarische Ökonomie im Ministerium für Arbeit und Beschäftigung. Die Fragen richten sich auf die Organisationsstruktur, die Vernetzung und Durchsetzungsfähigkeit sowie auf die politischen Rahmenbedingungen und davon ausgehend auf Perspektiven der Trans­formation.

12. September 2015 11:00-12:30 Uhr
Forum: University Solidarity Economy Networks – Exchanging experiences
With this workshop, we would like to invite scholars to share their experiences and to collectively think about possible avenues of cooperation, such as common calls for action and the formation of an international university network around the theme of building solidarity economies. Brazilian universities play an important role in incubating solidarity economy enterprises. Two university networks exist comprising around 40 universities each, which explicitly promote such incubation processes.

12. September 2015 14:30-16 Uhr Forum
Forum: „Kommunen und Solidarische Ökonomie“

Wir wollen Akteure einladen, die Kommunen und andere Gebietskörperschaften im Interesse der Bewohner verwalten wollen, die solidarische, regionale, alternative Wirtschaftskreisläufe fördern und wir wollen uns von guten Praktiken inspirieren lassen..
Zielsetzung der Veranstaltung ist, anhand guter Praxis zu zeigen, wie solidarisch wirtschaftende Unternehmen und Gemeinwesen von einer Zusammenarbeit profitieren können.