Muss Temer gehen?

Im Labyrinth der brasilianischen Politik

luladilma010617fotodilger

Lula und Dilma Rousseff auf dem PT-Parteitag am 1.6.17

Dieser Tage entscheidet das oberste Wahlgericht Brasiliens, ob Präsident Michel Temer im Amt bleibt

Von Thomas Fatheuer, taz

In der tiefsten politischen und ökonomischen Krise seiner jüngeren Geschichte richtet sich der Stolz der Nation in Brasilien an seltsamen Dingen auf: Netflix erklärte per Twitter, dass seine Serie „House of Cards“ nicht mit der brasilianischen Wirklichkeit konkurrieren könne – nicht einmal, wenn man 20 Drehbuchautoren verpflichte.

Wie der durchtriebene Frank Underwood der Fernsehserie ist auch der amtierende Präsident Michel Temer durch ein äußerst umstrittenes Impeachmentverfahren in sein Amt gekommen. Und nach einem Jahr Regierungszeit wackelt nun auch sein Stuhl. Die Besitzer der größten Schlachthauskette der Welt (JBS Friboi), die Brüder Batista, haben eine Unterhaltung mit Temer mitgeschnitten, bei der er sie anscheinend ermutigt, das Schweigen eines inhaftierten Politikers durch Geldzahlungen zu sichern.

Temers Tage scheinen nun gezählt, aber der schwer angeschlagene Präsident hält sich verzweifelt am Amt fest, denn er hat einiges zu verlieren. Das Amt garantiert ihm Immunität und allgemein wird angenommen, dass Temer gute Chancen hat, nach Ende der Amtszeit seine politische Karriere im Gefängnis zu beenden. Seit auch der mächtige Fernsehsender Globo offen das Ende Temers als Präsident fordert, ist sein Überleben bis zum regulären Wahltermin im Oktober 2018 mehr als fraglich. Ab dem 6. Juni soll nun das oberste Wahlgericht eine Entscheidung treffen, die Temer aus dem Amt hebeln könnte: Es muss über den Antrag befinden, die Präsidentschaftswahl – und damit auch die Wahl des ehemaligen Vizepräsidenten Temer – wegen illegaler Wahlkampffinanzierung für ungültig zu erklären. Ein solche Entscheidung gilt sogar noch als eine Art „ehrenvoller Abgang“ für Temer, weil die Hauptschuld auf die damalige Präsidentschaftskandidatin Dilma Rousseff und ihre Arbeiterpartei fallen würde.

Aber erstmal zurück zu einer kurzen Chronologie der Ereignisse: 2003 tritt Luiz Inácio Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT) mit großen Hoffnungen die Präsidentschaft an. Nach einer Wiederwahl und bedeutenden sozialen Erfolgen verlässt er 2010 mit hohen Zustimmungsraten das Amt und trägt entscheidend dazu bei, dass Dilma Rousseff zu seiner Nachfolgerin gewählt wird. Ihr gelingt 2014 noch die knappe Wiederwahl, aber im April 2016 wird sie durch ein Impeachmentverfahren ihres Amtes enthoben und ihr Vize Temer – einer Partei des damaligen Regierungsbündnisses zugehörig – übernimmt das Amt.

In dem politischen Labyrinth Brasiliens der letzten Jahre gibt es keine leichte Orientierung. Unbestritten ist, dass die Korruptionsermittlungen der brasilianischen Justiz und der Bundespolizei zu einem entscheidenden und neuen Faktor in der brasilianischen Politik geworden sind. „Lava Jato“ – wörtlich Hochdruckreiniger, in Brasilien ein Synonym für Autowäsche – ist der Name für die inzwischen fast unüberschaubar gewordenen Ermittlungen.

Brasiliens Linke sieht darin politischen Missbrauch und kritisiert deswegen insbesondere den exponierten Richter Moro: Es werde einseitig die PT und ihre Bündnispartner verfolgt. Lava Jato hatte aber auch von Anfang an die mit dem politischen System verbundenen Unternehmen im Visier. Eine staunende Öffentlichkeit konnte der Verhaftung der reichsten und mächtigsten Männer des Landes zuschauen. So sitzen die Eigentümer des international agierenden Baukonzerns Odebrecht genauso im Gefängnis wie der ehemals reichste Mann des Landes, Eike Batista, der wegen seiner deutschen Abstammung auch hierzulande als aufstrebender Unternehmer gefeiert worden war.

Nur das politisch wichtigste Ereignis der letzten Jahre, der Sturz der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff, hatte nichts mit den Ermittlungen von Lava Jato zu tun: Ihr wurden Manipulationen des Haushalts vorgeworfen – zweifelhafte technische Manöver, bei denen sich niemand bereicherte. Aber Lavo Jato ermöglichte das Amtsenthebungsverfahren: Es schuf das politische Umfeld und forcierte den Vertrauens- und Legitimationsverlust der Regierung.

Mit der Amtsübernahme Temers kehrte keine Ruhe ein, sondern bald wurde die Absurdität des Verfahrens selbst für die deutlich, die für die Amtsenthebung Dilmas auf die Straße gegangen waren: eine durch und durch korrupte politische Klasse hat sich einer ungeliebten Präsidentin entledigt und damit eine noch mehr durch Korruptionsvorwürfe belastete Regierung ins Amt gebracht. in Minister und Berater nach dem anderen musste durch ständig neue Enthüllungen den Dienst quittieren.

Lavo Jato hat sich zu einer stetig anwachsenden und mit neuen Enthüllungen aufwartenden Lawine entwickelt, die das gesamte politische und ökonomische System Brasiliens trifft. Die vorläufige Bilanz ist verwirrend: Politiker und Unternehmer, die wegen Korruption und illegaler Parteispenden beschuldigt werden und dieses Vergehen auch zum großen Teil gestanden haben, sitzen im Gefängnis. Eine unerhörte Tatsache in einem Land, in dem die Straflosigkeit – „impunidade“ – für die Eliten immer ein Schlüsselwort der politischen Debatten war. Zum anderen hat Lava Jato aber auch dazu geführt, dass eine unbequeme linke Regierung durch die korruptesten Teile der brasilianischen Elite gestürzt wurde.

Es wäre falsch, die aktuelle Lage nur als Chaos zu sehen. Temer hat sich in seinem ersten Regierungsjahr keineswegs als „lahme Ente“ gezeigt, sondern neoliberale Reformen begonnen, eine strikte Austeritätspoltik durchgesetzt und Umweltpolitik sowie den Schutz indigener Völker weiter marginalisiert. Für eine demokratisches System ist dies ein fatale Konstellation: Eine nicht gewählte, unpopuläre Regierung will mit Hilfe eines diskreditierten Parlaments weitreichende Reformen des Rentensystems und des Arbeitsrechts durchziehen.

Genau dieses Szenario ist aber nun durch die jüngsten Enthüllungen der Schlachthausbrüder unwahrscheinlich geworden. Globo und andere bisherige Unterstützer Temers trauen ihm nun nicht mehr zu, diese „Reformen“ durchzusetzen.

Aktualisierung (amerika21.de)

Am 9. Juni verkündete das Oberste Wahlgericht seine Entscheidung über die Gültigkeit der Finanzen der gemeinsamen Wahlkampagne der Arbeiterpartei PT und der damals verbündeten PMDB aus dem Jahr 2014. Der Antrag des Berichterstatters vor Gericht lautete, diese Wahlkampagne und somit das Wahlergebnis wegen illegaler Wahlkampffinanzierung für ungültig zu erklären – damit wäre auch die Wahl des Vizepräsidenten Temer ungültig und er des Amtes enthoben. Ein solche Entscheidung hätte sogar noch als eine Art “ehrenvoller Abgang” für Temer gelten können, weil er die Hauptschuld auf Dilma Rousseff und ihre Arbeiterpartei hätte schieben können. Dann aber kam die Überraschung. Eigentlich ging die Mehrheit der Beobachter davon aus, dass Temer vom Gericht aus dem Amt gejagt werden würde, denn selbst in konservativen Medien galt er mittlerweile als untragbar.

Aber Temers Rückhalt bei der Mehrheit der sieben Richter erwies sich als stark genug. Mehrere Richter argumentierten zur Überraschung vieler, dass die Aussagen der Belastungszeugen ja nur Aussagen seien, so dass deren Wahrheitsgehalt nicht erwiesen sei. Monate zuvor galt in der Justiz oft das Gegenteil, meist wenn es um Aussagen zu Korruption bei PT-Politikern ging. Viele Beobachter sind sich sicher, dass das Urteil anders gelautet hätte, wenn Rousseff als noch amtierende Präsidentin vor dem Wahlgericht gestanden hätte. Der Journalist Juca Kfouri hatte angesichts der richterlichen Mehrheitsabstimmung mit vier zu drei Stimmen nur ein Urteil übrig. “Dieses 4:3 ist beschämender als das 1:7”, sagte Kfouri mit Bezug auf den Traumakick für Brasilien bei der Fußball-WM im eigenen Land. Temer wird man offensichtlich nicht so leicht los.

Radiointerview mit Thomas Bauer vom RLS-Partner CPT-Bahia

luto

“Trauer um die Demokratie” – Demonstration in Minas Gerais

Der Politikwissenschaftler Carlos Melo vergleicht die Situation Brasiliens mit einem Labyrinth, in dem der unbesiegte Minotaurus – das durch und durch korrupte politische System – allgegenwärtig bleibt. Und weder ist ein Faden der Ariadne noch ein moderner Theseus in Sicht. Aber die Linke Brasiliens – oder zumindest große Teile derselben – hat nun doch ein bisschen Hoffnung: Sie vereinigt sich wieder unter der Forderung nach sofortigen Direktwahlen. Und Ex-Präsident Lula liegt in allen Umfragen vorne.

Die durch Lava Jato verfestigte Gewissheit, das gesamte politische System sei korrupt, stärkt kurioserweise den Expräsidenten und seine Arbeiterpartei. Dient Korruption nicht mehr als Unterscheidungsmerkmal, bleibt das Votum für einen Präsidenten, der immerhin in der Sozialpolitik und bei der Armutsbekämpfung einiges geleistet hat. Und selbst für viele PT-kritische Linke scheint nun die Perspektive Lula zumindest eine erträgliche Zwischenlösung zu sein. Über die Zukunft nach der Krise nachzudenken, dafür ist es wohl noch zu früh.

Fotos: Gerhard Dilger, Antonioni Cassara/Ninja