Der Putsch in Argentinien war kein Einzelereignis. Er reihte sich in die Serie von Militärputschen ein: 1964 in Brasilien, 1971 in Bolivien, Juni 1973 in Uruguay, September 1973 in Chile. Und immer hatte die US-Regierung ihre Finger mit im Spiel.
Início » »
“Wir waren nur noch eine Nummer”
28/03/2016
por
Jürgen Vogt

In der Folterschmiede der argentinischen Diktatur ESMA wurden Tausende Menschen gequält

Sie ist das Symbol für die Verbrechen von Argentiniens Militärdiktatur, die am 24. März 1976 ihren Ausgang nahm: Die Mechanikerschule der Marine in Buenos Aires. Die ESMA ist heute ein Gedenkort.

Von Jürgen Vogt, neues deutschland

Die Mechanikerschule der Marine in Buenos Aires liegt an der viel befahrenen Avenida Libertador. An freundlichen Tagen weht ein frischer Wind vom Ufer des nahen Río de la Plata herüber. Auf dem 17 Hektar großen Gelände an der nördlichen Stadtgrenze von Buenos Aires stehen 34 Gebäude. Gegenüber beginnt das Mittelklasseviertel Núñez.

Am 24. März 1976 putschte das Militär in Argentinien. Als oberster Chef der Streitkräfte hatte Jorge Rafael Videla zusammen mit Admiral Emilio Massera und General Orlando Agosti die damalige Präsidentin Isabel Perón abgesetzt. Als De-facto-Präsident löste Videla die Parteien auf und schaffte das Parlament ab. Was folgte, war eine als »Prozess der nationalen Reorganisation« bezeichnete Herrschaft, unter der politische Gegner verfolgt und eine neoliberale Wirtschaftspolitik eingeführt wurde.

Nach dem Putsch richtete die Marine in der Escuela Superior de Mecánica de la Armada, kurz ESMA, ein Gefangenlager ein. Tausende wurden in die ESMA verschleppt. Für jeden Gefangenen wurde eine Akte angelegt, 5000 Akten wurden gefunden. Von den 5000 Gefangenen haben rund 300 überlebt. Enrique Fukman ist einer von ihnen. Fünfzehn Monate war er in der ESMA gefangen. »Die ESMA funktionierte wie ein Konzentrationslager. Gefangenschaft, Folter, Zwangsarbeit und Vernichtung. In der ESMA war alles vereint, das war einzigartig in Argentinien.«

Enrique Fukman

Als das Militär putschte, war Enrique Fukman 19 Jahre alt und beim linksperonistischen Movimiento Montoneros aktiv. Er hatte gerade die Schule für Elektrotechnik abgeschlossen und zu arbeiten begonnen. »Schon tags zuvor hieß es in unserer Gruppe, wir sollten aufpassen, heute Nacht werde es einen Putsch geben.« Fukman blieb zu Hause, am anderen Morgen hörte er die Nachricht im Radio. »Ich ging zur Arbeit, um mit meinen Kollegen zu besprechen, was wir gegen den Putsch machen können. Viele waren ratlos.«

»Ab Mai 1976 verschwanden plötzlich Compañeros.« Im August wurde sein Haus durchsucht, die versteckte Druckmaschine der Metallgewerkschaft wurde gefunden. Fukman tauchte unter, versteckte sich bei Freunden. »Vor allem ging es darum, den Widerstand der Leute zu organisieren«, beschreibt er seine Zeit im Untergrund. Am 5. Februar 1977 wurde sein jüngerer Bruder im Stadtteil La Boca auf der Straße von der Polizei erschossen. »Er war 17, als sie versuchten, ihn gefangenzunehmen.«

Als sie nicht mehr nach ihm suchten, begann er an der Universität Buenos Aires Ingenieurwissenschaften zu studieren, engagierte sich in den Studentengruppen. Am Abend des 18. Novembers 1978 besuchte er eine Compañera in ihrem Elternhaus. Als er nach Hause ging, wurde er entführt. Sie steckten ihn in den Kofferraum und fuhren zu einem Gebäude. Dort führten sie ihn in einen Keller, zogen ihn aus, fesselten ihn auf ein Metallbett und fingen an, ihn mit Elektroschocks, der Picana Eléctrica zu foltern. »Das war mein Willkommen in der ESMA«, sagt er. Warum hier? »Weil mich zufällig die Greiftruppe der Marine erwischte.«

Der Putsch in Argentinien war kein Einzelereignis. Er reihte sich in die Serie von Militärputschen ein: 1964 in Brasilien, 1971 in Bolivien, Juni 1973 in Uruguay, September 1973 in Chile. Und immer hatte die US-Regierung ihre Finger mit im Spiel. Für sie war der Rest des Kontinents ihr Hinterhof, der kontrolliert werden musste.

In der ESMA waren die Gefangenen im Offizierskasino eingesperrt. Im Keller waren Folterräume eingerichtet worden. »Der Durchgang dort ist sehr niedrig, unter den Querbalken musste man sich bücken, aber wir hatten ja die Kapuzen über dem Kopf und die Aufseher ließen uns mit den Köpfen gegen die Betonbalken laufen.« Fukman legt seine Hand zwischen Kopf und Balken, mit seinen 1,65 Meter blieb er davon verschont.

Er geht die Treppe hoch. Die Kanten der Stufen sind abgeschlagen. »Von unseren Eisenfesseln an den Füßen.« Eine Seitentür führt hinter das Gebäude. Hier konnten die Lastwagen vorfahren, um die mit Drogen betäubten Compañeros abzuholen, zum Verschwindenlassen. Bei den Todesflügen, den Vuelos de la Muerte, wurden Mitgefangene über dem Río de la Plata aus den Flugzeugen geworfen. »Wir gingen hinein und die wurden herausgebracht.« Er streicht über die Tür, schweigt.

Im Festsaal im Erdgeschoss wurde oft vom Offizierskorps gefeiert. Auch private Feste fanden statt. »Manchmal kamen sie mit ihren Gästen und zeigten ihnen die Gefangenen – wie Kriegstrophäen.« Im ersten und zweiten Stock waren die Wohn- und Schlafzimmer der Offiziere und des Lehrpersonals. 1977 wurden zwei Räume für schwangere Gefangene benutzt. Etwa 30 Babys wurden hier geboren. Die Frauen wurden ab dem siebten Schwangerschaftsmonat hierhergebracht, durften die Kapuze und Handschellen abnehmen. Die Geburten wurden vom medizinischen Personal der Marine vorgenommen, die Babys an Adoptiveltern weitergereicht.

Unter dem Dach lagen die Gefangenen wie aufgereiht nebeneinander. »Wer hier hereinkam, war nur noch eine Nummer.« Aus Enrique Fukman wurde 252. La Capucha, die Kapuze, wird der Dachspeicher genannt. Die Gefangenen trugen immer eine Kapuze über Kopf und Gesicht. Sechs Monate lag 252 hier oben, Füße Richtung Wand, Kapuze über Kopf und Gesicht. »Ständig lief das Radio der Aufseher, wir wussten immer, wie viel Uhr und welcher Tag es war.« Die Männer wurden geschlagen, die Frauen nicht. »Aber wenn sie von der Toilette zurückkamen, waren sie oftmals vergewaltigt worden.«

Der Schulalltag an der Mechanikerschule lief wie selbstverständlich neben den Gefangenen, den Gefolterten, den Ermordeten, den Verschwundenen weiter. Unter der anderen Dachseite war das Aquarium, la Pecera. Kleine Büros, abgetrennt durch Acrylglasscheiben. »Damit uns die Aufseher leichter überwachen konnten, wie Fische im Glas.« Hier werteten Gefangene die aktuellen Tageszeitungen und Zeitschriften aus, verfassten Zusammenfassungen der wichtigsten Nachrichten. Auch Fukman schrieb. »Ich wusste immer, was draußen passierte. Ich las die nationale Presse, Cambio16 aus Spanien, Newsweek, die Times.«

Am 18. Februar 1980 wurde er nach Hause gefahren. Warum an diesem Tag? Warum er überlebte? »Das weiß ich nicht, das wissen nur sie.« Aber eine Aufgabe der Diktatur war laut Fukman, Misstrauen zu erzeugen. Wenn jemand entführt wurde, dann muss er auch irgendetwas gemacht haben. Wenn jemand wieder auftauchte, dann muss er irgendwas getan haben, damit er wieder da war. Jeder wurde verdächtig, entweder als Krimineller oder als Kollaborateur.

Am 19. März 2004 war er zum ersten Mal wieder in der ESMA. Die in der Vereinigung der Ex-Verhafteten und Verschwundenen zusammengeschlossenen Überlebenden baten Präsident Nestór Kirchner um ein Treffen. Kirchner selbst hatte dafür die ESMA vorgeschlagen. »Unsere einzige Bedingung war, dass uns keine Marineangehörigen über den Weg laufen und keine Presse.« Mit Kirchner gingen sie den Weg zum Offizierscasino, stiegen hinunter in den Keller und hinauf in die Capucha. »Das war ein heftiger Tag, es war auch ein Treffen mit sich selbst.« Und es sei für ihn wie Geisteraustreiben gewesen.

 

“Barack Obama soll sich hier nicht einmischen”

Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel* über die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen und den Besuch des US-amerikanischen Präsidenten zum Putsch-Jahrestag

Über den Stand der Aufarbeitung der Diktaturversprechen sprach für »nd« mit Pérez Esquivel Jürgen Vogt.

unnamed (1)
Adolfo Pérez Esquivel*

Am 24. März jährt sich zum 40. Mal der Tag des Militärputschs. International bekommt Argentinien viel Beifall für die juristische Aufarbeitung der Diktaturzeit. Freut Sie das?
Ja, Argentinien ist einer der wenigen Staaten, der mit seiner eigenen Justiz über die Menschenrechtsverbrechen der Diktatur richtet. Das muss gewürdigt werden. Die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Prozesse wegen der Verbrechen in Ex-Jugoslawien waren Ad-hoc-Tribunale, die einzig dafür gebildet wurden. Dagegen ist es in Argentinien gelungen, die Verantwortlichen vor die eigenen Gerichte zu stellen und zu bestrafen.

Glauben Sie, dass die neue rechtskonservative Regierung die juristische Aufarbeitung behindern wird?
Nein, gegenwärtig deutet nichts darauf hin. Zum einen hat Ricardo Lorenzetti, der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes klargestellt, dass es bei den Gerichtsverfahren kein Zurück geben werde. Sollte die Regierung hier zurückrudern wollen, ginge dies nicht, denn dies ist eine Angelegenheit der Justiz. Und zum anderen hat mir der Staatssekretär für Menschenrechte, Claudio Abru, versichert, dass die Regierung von Präsident Mauricio Macri die Gerichtsverfahren weiter begleiten werde.

Es wird wieder zwei getrennte Gedenkmärsche geben. Warum lebt die Spaltung fort?
Ein Teil der Menschenrechtsorganisationen beschränkt sich auf das, was während der Diktatur geschehen ist. Das muss respektiert werden, denn viele Organisationen formierten sich, um zu erfahren, was mit den geliebten Angehörigen passiert ist. Ein anderer Teil der Organisationen begreift die Menschenrechte umfassender, es geht auch darum, was heute mit den Menschenrechten passiert. Der Staat ist verantwortlich für die Einhaltung und Achtung der Menschenrechte, und wenn sie verletzt werden, ist er dafür verantwortlich. Alles andere sind Straftaten. Es gab in Argentinien Menschenrechtsorganisationen, die sich zu Verbündeten des Staates und der vorherigen Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner wandelten und es auch weiterhin sind. Das sind die zwei wesentlichen Unterschiede.

Was bedeutet es konkret, die Menschenrechte umfassender zu begreifen?
Gegenwärtig wird im Kongress die Zahlung der Auslandschulden bei den sogenannten Geierfonds debattiert. Diese Hedge-Fonds haben nach dem Bankrott 2002 für fast umsonst argentinische Schuldentitel aufgekauft und danach auf die 100-prozentige Tilgung in Milliardenhöhe geklagt. Diese Schulden sind auch Teil der Auslandsschuld, die während der Diktatur angehäuft wurde, und daran klebt das Blut unserer Ermordeten, Verschwundenen und Gefolterten. Es wurde nie eine Überprüfung der Schulden vorgenommen, um zu sehen, welche Verbindlichkeiten legitim sind und welche nicht. Stattdessen wurde sie von allen Regierungen vor den Kirchners stets anerkannt und bedient. Ein anderes Beispiel. 2015 haben wir eine Untersuchung von 50 Strafanstalten im ganzen Land gemacht. Und dies waren beileibe nicht alle. Wir stellten dabei 6835 Fälle von Folter und Misshandlungen fest. Das ist mehr als besorgniserregend und zeigt, dass die Polizeikräfte ihre Haltung bis heute nicht veränderten. Zwar wurden einige Strukturen geändert, aber sie machen mit den Praktiken aus der Zeit der Diktatur weiter.

Die Verstrickung der USA in die Militärputsche der 1970er Jahre ist bekannt. Ausgerechnet am 23. und 24. März kommt US-Präsident Barack Obama nach Argentinien. War der US-Präsident schlecht beraten?
Die argentinische Regierung hatte dem US-Präsidenten vorgeschlagen, am 24. März die ehemalige Folterschmiede ESMA zu besuchen. Ich schrieb ihm daraufhin, dass dies an diesem Tag nicht geht, dass dies der Tag der Erinnerung des argentinischen Volkes an den Putsch und auch an die Teilhaberschaft der USA ist und, dass in ganz Argentinien dafür mobilisiert werde. Ich finde es gut, dass Barack Obama am 24. März in den Süden nach Bariloche fährt, um die Schönheit des Landes kennenzulernen und sich hier nicht einmischt.

Warum also kommt Obama?
Zwischen den Regierungen der USA und Argentiniens gibt es eine Annäherung. Er hat einen Freihandelsvertrag im Gepäck, mit dem die 2005 gescheiterte amerikanische Freihandelszone ALCA ersetzt werden soll. Obama wird versuchen, zu einer Übereinkunft zu kommen.

*Der 1980 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Argentinier Adolfo Pérez Esquivel gilt als konsequenter Verfechter der Menschenrechte. 1977 wurde er von den Militärs verhaftet und für 14 Monate eingesperrt und gefoltert.

 

Fotos: Jürgen Vogt

ND-Argentinien-40 Jahre Putsch Seite 3-24-03-16 (pdf)